Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

532 III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland. 
Dem jungen Hänlein, der jetzt den Gesandtschaftsposten seines ver- 
storbenen Vaters bekleidete, versicherte der Kurfürst oft, und unzweifelhaft 
ehrlich, daß er sich ganz an Preußen anschließen wolle. Doch da König 
Friedrich Wilhelm nicht umhin konnte, zu Gunsten seiner mißhandelten 
Schwester, der Kurfürstin, und ihres jungen Sohnes sein Fürwort ein- 
zulegen, so nahm der Streit zwischen den beiden verwandten Höfen kein 
Ende. Einmal kam es zum Bruch: als der Kurfürst seine Schwester, 
die kranke Herzogin von Bernburg, bei Nacht und Nebel aus Bonn hatte 
entführen und nach Hanau bringen lassen. Er behauptete, die Unglück- 
liche sei geisteskrank; erwiesen ist nur, daß seit jener Entführung die Krank- 
heit sich unverkennbar zeigte. Damals wurde Hänlein abberufen und 
durfte erst nach Monaten zurückkehren, nachdem der Kurfürst wegen der 
Verletzung des preußischen Gebiets Abbitte geleistet hatte.) In den besser 
regierten deutschen Territorien ermöglichte die Enge der Verhältnisse den 
einzigen Vorzug der Kleinstaaterei, die wohlwollende Berücksichtigung der 
persönlichen und örtlichen Interessen: in Hessen bewirkte sie ein System 
persönlicher Verfolgung. Die Reichenbach kannte Jeden, und Jedermanns 
Schicksal richtete sich nach seiner Stellung zu diesem Weibe. An einem 
Sommerabend des Jahres 1823 kam der Kurfürst plötzlich von der Wil- 
helmshöhe nach Cassel herabgesprengt, ließ Allarm schlagen und die Garnison 
auf dem Friedrichsplatze antreten; dann wurden Hauptmann Radovwitz 
vom Generalstabe und drei andere Offiziere in kleine Garnisonen verwiesen 
mit dem Befehle augenblicklich abzureisen.“') Die Verbannten waren 
sämmtlich Freunde des Kurprinzen und hatten ihre Meinung über die 
Reichenbach nicht verhehlt; Radowitz fand nachher durch die Gunst des 
Prinzen August eine neue, reichere Thätigkeit in Preußen. Als Heyer 
v. Rosenfeld in Folge eines schmutzigen Liebeshandels von einem Offizier 
gefordert wurde, erließ der Kurfürst, um dies theure Leben zu schützen, sofort 
ein Gesetz, das den Zweikampf mit der Strafe des Mordes, die Forderung 
mit anderen entehrenden Strafen bedrohte. Besonders gefürchtet waren 
die Zeiten des Wochenbetts der Reichenbach, die in jedem Jahre wieder- 
zukehren pflegten; dann hatte der Kurfürst nichts zu thun, überfiel Abends 
die Behörden in ihren Diensträumen, schrieb die Fehlenden auf, ließ seine 
üble Laune an Jedem aus, der ihm in die Hände lief. 
Aber was wollte dies sagen neben der erschütternden Familientragödie 
im fürstlichen Hause? Die Kurfürstin war lange auf Reisen und schloß 
endlich mit ihrem Gatten einen Vertrag, der ihr einen eigenen Hofhalt 
sicherte. Der Kurprinz hielt standhaft zu seiner Mutter; er hatte sich zu- 
geschworen die Feste der Reichenbach niemals zu besuchen und blieb dabei, 
obgleich die Hoftheologen seines Vaters ihm die Unverbindlichkeit des 
  
*) Hänlein's Berichte, 28. Febr. 1822 ff. 
*“) Hänlein's Bericht, 14. Juni 1823.
	        
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