532 III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Dem jungen Hänlein, der jetzt den Gesandtschaftsposten seines ver-
storbenen Vaters bekleidete, versicherte der Kurfürst oft, und unzweifelhaft
ehrlich, daß er sich ganz an Preußen anschließen wolle. Doch da König
Friedrich Wilhelm nicht umhin konnte, zu Gunsten seiner mißhandelten
Schwester, der Kurfürstin, und ihres jungen Sohnes sein Fürwort ein-
zulegen, so nahm der Streit zwischen den beiden verwandten Höfen kein
Ende. Einmal kam es zum Bruch: als der Kurfürst seine Schwester,
die kranke Herzogin von Bernburg, bei Nacht und Nebel aus Bonn hatte
entführen und nach Hanau bringen lassen. Er behauptete, die Unglück-
liche sei geisteskrank; erwiesen ist nur, daß seit jener Entführung die Krank-
heit sich unverkennbar zeigte. Damals wurde Hänlein abberufen und
durfte erst nach Monaten zurückkehren, nachdem der Kurfürst wegen der
Verletzung des preußischen Gebiets Abbitte geleistet hatte.) In den besser
regierten deutschen Territorien ermöglichte die Enge der Verhältnisse den
einzigen Vorzug der Kleinstaaterei, die wohlwollende Berücksichtigung der
persönlichen und örtlichen Interessen: in Hessen bewirkte sie ein System
persönlicher Verfolgung. Die Reichenbach kannte Jeden, und Jedermanns
Schicksal richtete sich nach seiner Stellung zu diesem Weibe. An einem
Sommerabend des Jahres 1823 kam der Kurfürst plötzlich von der Wil-
helmshöhe nach Cassel herabgesprengt, ließ Allarm schlagen und die Garnison
auf dem Friedrichsplatze antreten; dann wurden Hauptmann Radovwitz
vom Generalstabe und drei andere Offiziere in kleine Garnisonen verwiesen
mit dem Befehle augenblicklich abzureisen.“') Die Verbannten waren
sämmtlich Freunde des Kurprinzen und hatten ihre Meinung über die
Reichenbach nicht verhehlt; Radowitz fand nachher durch die Gunst des
Prinzen August eine neue, reichere Thätigkeit in Preußen. Als Heyer
v. Rosenfeld in Folge eines schmutzigen Liebeshandels von einem Offizier
gefordert wurde, erließ der Kurfürst, um dies theure Leben zu schützen, sofort
ein Gesetz, das den Zweikampf mit der Strafe des Mordes, die Forderung
mit anderen entehrenden Strafen bedrohte. Besonders gefürchtet waren
die Zeiten des Wochenbetts der Reichenbach, die in jedem Jahre wieder-
zukehren pflegten; dann hatte der Kurfürst nichts zu thun, überfiel Abends
die Behörden in ihren Diensträumen, schrieb die Fehlenden auf, ließ seine
üble Laune an Jedem aus, der ihm in die Hände lief.
Aber was wollte dies sagen neben der erschütternden Familientragödie
im fürstlichen Hause? Die Kurfürstin war lange auf Reisen und schloß
endlich mit ihrem Gatten einen Vertrag, der ihr einen eigenen Hofhalt
sicherte. Der Kurprinz hielt standhaft zu seiner Mutter; er hatte sich zu-
geschworen die Feste der Reichenbach niemals zu besuchen und blieb dabei,
obgleich die Hoftheologen seines Vaters ihm die Unverbindlichkeit des
*) Hänlein's Berichte, 28. Febr. 1822 ff.
*“) Hänlein's Bericht, 14. Juni 1823.