Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

574 III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland. 
deutschen Hochschulen nur eine bescheidene Rolle gespielt, und in der luthe— 
rischen Landeskirche wurde der herrschende flache Rationalismus von einer 
ebenso geistlosen Orthodoxie, die an den Führern des Adels ihre Gönner 
fand, gröblich bekämpft. Darin stimmten beide Parteien überein, daß die 
lutherische Glaubenseinheit, die hier so hart gehandhabt wurde wie in 
Skandinavien, unerschüttert bleiben müsse. Den Katholiken war — den 
Bundesgesetzen zuwider — nur in zwei Gemeinden öffentlicher Gottes- 
dienst gestattet, und die evangelische Union wurde gleich im Jahre ihrer 
Entstehung streng verboten; wollte ein Reformirter am Abendmahle der 
Lutheraner theilnehmen, so sollte er zuvor seine calvinische Ketzerei ab- 
schwören. Die Juden mußten sich's gefallen lassen, daß die Gleichberech- 
tigung, die ihnen der gute Friedrich Franz in der hoffnungsvollen Zeit 
des Befreiungskriegs gewährt hatte, vier Jahre nachher auf Andringen 
des Landtags zurückgenommen wurde. 
Noch weniger als dies unentwickelte Bürgerthum vermochte der Bauern- 
stand aus eigener Kraft sich der Uebermacht der Ritter zu erwehren. Der 
lange, grausame Vernichtungskampf der mecklenburgischen Grundherren 
wider die Bauerschaft füllt wohl das dunkelste Blatt in der Geschichte des 
deutschen Adels. Ungehindert von der schwachen Landesherrschaft hatte sich 
der Adel seit 1621 völlig willkürlich das Recht angemaßt, seine Bauern 
zu „legen“, ihre Güter einzuziehen falls sie kein Erbzinsrecht nachweisen 
konnten. Nach dem dreißigjährigen Kriege wohnten noch an 12,000 freie 
Bauern im Lande; da stürzte ein großer technischer Fortschritt des Land- 
baus, die Einführung der holsteinischen Koppelwirthschaft durch v. d. Lühe, 
den Bauernstand gänzlich ins Verderben. Ums Jahr 1730 begannen 
die Grundherren wetteifernd ihre Bauern um= und niederzulegen, bis 
schließlich nur noch etwa ein halb Dutzend freier Bauerndörfer übrig blieb; 
die schönen Rinderherden, die nunmehr auf den wohlumhegten Koppeln 
der Edelleute weideten, waren die reißenden Thiere, welche den Bauer 
aufgefressen hatten — wie die Schafe in England zur Zeit des Thomas 
Morus. Der Erbvergleich bestätigte der Ritterschaft ihr angemaßtes Recht 
und verlangte nur, daß ganze Dorfschaften nicht ohne die Erlaubniß des 
Herzogs und des ständischen Ausschusses gelegt werden sollten — ein Ver- 
bot, das der Grundherr leicht umging, wenn er die Bauernhöfe einzeln 
niederlegte. So brach über das unglückliche Land eine wirthschaftliche 
Katastrophe herein, wie sie auch Brandenburg ohne die starken Hände 
seiner Monarchen leicht hätte erleben können. Die Güter der Ritterschaft 
umfaßten beim Beginne des neuen Jahrhunderts etwa 45 Procent vom 
Landesgebiete, aber kaum ein Drittel seiner Bevölkerung; nur 1300 Menschen 
lebten dort noch auf der Geviertmeile. Und doch strebte das Volk hinaus 
aus dem gewaltsam verödeten fetten Lande; wiederholte strenge Gesetze 
mußten den Leibeigenen, „die ihrer Leiber nicht mächtig sind,“ die Aus- 
wanderung untersagen. Der dienstpflichtige Landmann arbeitete oft sechs
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.