Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Oldenburg. Die Hansestädte. 577 
Darum verwendete sich selbst Stein im Herbst 1813 lebhaft für die 
Unabhängigkeit der Hansestädte. Er ging dabei von der zweifachen Voraus— 
setzung aus: daß fortan wieder eine Reichsgewalt mit wirksamen Hoheits— 
rechten bestehen und daß eine nationale Zolllinie alle deutschen Grenzen 
umschließen würde. Beide Erwartungen erfüllten sich nicht. Noch im acht— 
zehnten Jahrhundert hatte die Reichsgerichtsbarkeit den Schlußstein der 
hanseatischen Städteverfassung gebildet; wiederholt waren kaiserliche Com— 
missionen eingeschritten um den Unfrieden in den Reichsstädten beizulegen. 
Durch die Bundesakte aber erhielten die Hansestädte die volle Unabhängig— 
keit souveräner Staaten, und damit eine Fülle von Ansprüchen und Ver— 
pflichtungen, denen sie unmöglich genügen konnten; denn obwohl Hamburg 
mit seiner Kopfzahl einem thüringischen Herzogthum, mit seinem Staats— 
aufwande etwa dem Großherzogthum Oldenburg gleich kam, durch seine 
wirthschaftliche Kraft sogar das Königreich Württemberg übertraf, so war 
doch der feste Grund jedes selbständigen politischen Daseins, die Wehr— 
barkeit in einem modernen Stadtstaate ganz undenkbar. Statt der von 
Stein erhofften Reichszölle kehrte das Elend der Landeszölle wieder, und 
die Städte sahen sich gezwungen zu ihrer alten selbständigen Handelspolitik 
zurückzugreifen, die sich seit dem Westphälischen Frieden — wer durfte es 
leugnen? — bei der Neutralität immer am wohlsten befunden hatte. 
Also führten diese stolzen Communen, die als freie Glieder eines 
mächtigen Staates eine Zierde Deutschlands sein konnten, fortan ein 
krankhaftes Zwitterleben; sie waren halb Städte, halb Staaten, halb 
deutsch, halb weltbürgerlich, und obgleich es auch in ihren Mauern nicht 
an Patrioten fehlte, welche die wirthschaftliche Zerrissenheit des Vaterlandes 
beklagten, so übte doch die Gewohnheit bald ihre unwiderstehliche Gewalt. 
Man lebte sich ein in das handelspolitische Sonderdasein und sprach den 
Landsleuten im Binnenlande, die allerdings oft sehr ungerecht über die 
verwickelten Interessen der Hansestädte urtheilten, hochmüthig jedes Recht 
ab in Sachen des Küstenlandes mitzureden. Man bezeichnete die Abson— 
derung vom Vaterlande, die sich doch nur als Nothwehr gegen die Binnen— 
zölle vorläufig entschuldigen ließ, mit dem tönenden Namen der Handels— 
freiheit und machte nach deutscher Weise aus der Noth nicht bloß eine 
Tugend, sondern eine Theorie: während London, Neuyork, Marseille, alle 
großen Hafenplätze der Welt sich unter dem Schutze nationaler Zolllinien 
wohl befanden, sollte — so hieß es jetzt — die Natur selber die Mün- 
dungen der Elbe, Weser und Trave so eigenartig gestaltet haben, daß sie 
ein Zollwesen nicht ertragen könnten. Man versicherte oft und inbrünstig, 
einer gesammideutschen Handelspolitik würden sich die Hansestädte gern 
unterwerfen. Aber die große Mehrzahl ihrer Kaupherren scheute jede 
Aenderung, sie fühlten sich glücklich in der bequemen internationalen Frei- 
hafenstellung, die ihnen gestattete, unbekümmert um das Hinterland, immer 
den nächsten Handelsvortheil wahrzunehmen. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1II. 37
	        
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