Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Jüdische Selbstverhöhnung. 705 
und Schafsgeduld, bis sie selber an dies alberne Zerrbild deutschen Wesens 
glaubte und sich wirklich einbildete, das leidenschaftlichste Volk Europas, 
das Volk der furia tedesca sei phlegmatisch. 
In diesen Jahren der Besudelung alles deutschen Wesens erhielt 
auch das nationale Scherzbild des deutschen Michels eine neue widerliche 
Gestalt. Der deutsche Michel der alten Zeit war, seinem kriegerischen 
Namen gemäß, ein gewaltiger Schlagetodt, grob und plump, aber tapfer 
und gradezu, ein lebensfroher Gesell, wie John Bull oder Robert Macaire, 
nicht unwürdig eines großen Volkes, das an sich selber glaubte und darum 
auch einmal über sich selber lachen durfte. Neuerdings wurde in Bild 
und Wort unter dem alten Namen ein feiger und fauler Philister dar- 
gestellt, der von aller Welt mißhandelt sich die Schlafmütze über die Ohren 
zog. Das Spottbild war während der Kämpfe der Romantiker gegen 
die Philister aufgekommen, zuerst auf dem Titelblatte der Heidelberger 
Einsiedlerzeitung, aber Achim v. Arnim hatte dabei feierlich erklärt, mit 
diesem Faulpelz sei nur das wohlhabende lesende Publikum gemeint, 
„nicht mein Volk, das ich ehre, mit dem ich nimmermehr zu scherzen 
wage“. Das junge radicale Geschlecht kannte solche Scheu nicht mehr 
und fand es nicht unehrenhaft, die Nation, welche soeben mit ihrem sieg- 
reichen Degen das napoleonische Weltreich gestürzt hatte, unter dem ekel- 
haften Bilde eines trägen Feiglings zu verhöhnen. 
Die zerreibende und verhetzende Wirksamkeit des radicalen Judenthums 
war um so gefährlicher, da die Deutschen sich über den Charakter dieser 
neuen literarischen Macht lange täuschten. Sie hielten arglos für deutsche 
Aufklärung und deutschen Freisinn was in Wahrheit jüdischer Christen- 
haß und jüdisches Weltbürgerthum war. Nur Wolfgang Menzel und 
wenige andere Publicisten empfanden die Gefahr, doch da sie sämmtlich 
der hochkirchlichen Richtung angehörten, so wurden ihre Warnungen miß- 
achtet. Erst in einer weit späteren Zeit erkannte die Nation, daß seit 
dem Ende der zwanziger Jahre ein fremder Tropfen in ihr Blut gerathen 
war. Es war der Ruhm der Deutschen gewesen, daß sie niemals auf der 
Bank der Spötter gesessen hatten, daß ihre freien Köpfe mit Kühnheit, aber 
stets mit Ehrfurcht an das Heilige herangetreten waren. Jetzt ging dieser 
Ruhm verloren; auch Deutschland sollte Schriften sehen, die sich mit 
Voltaire's Frechheit, freilich nicht mit seinem Geiste messen konnten. 
Der Ahnherr dieser jüdisch-deutschen Zwitter-Literatur war der Frank- 
furter Ludwig Börne, ein im Grunde ehrlicher, weicher, warmherziger 
Mann, der durch Schuld und Verhängniß niemals über die geschmacklose 
Vermischung deutscher Sentimentalität und jüdischer Witzelei hinauskam, 
der zwischen Vaterlandsliebe und Kosmopolitismus haltlos hin und her- 
geschleudert, weder einen bestimmten Glauben noch ein wirkliches Volks- 
thum zu finden vermochte und schließlich der Roheit eines wüsten, polternden 
Radicalismus anheimfiel. In der Zeit einfacher, kräftiger Gesittung 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 45
	        
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