102 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
suchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht
vernommen wurden. Der Handstreich der wenigen konnte offenbar nur
gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünschte. Die vollbrachte
Tat erschien allen als ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte.
Wohl hatte sich seit der großen Woche der Pariser überall in der Welt
der Wahn verbreitet, daß die Masse im Straßenkampfe unbesiegbar sei;
alle Zeitungen wiederholten beständigden Ausspruch, welchen einst Napoleon
auf Grund der spanischen Erfahrungen seiner Marschälle getan haben
sollte: wehe dem General, der sich in der Enge der Gassen auf ein
Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der
ruhmreichen schwarzen Schar die Hände lähmte, sondern Haß und Ver—
achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen, um einem Elenden, der uns
feige verlassen hat, sein Schloß zu behüten? — dies Bedenken drängte
sich allen auf und stimmte sie unsicher gegenüber einem weder mutigen
noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrat der Offiziere ist
nie erwiesen worden, und es bedarf auch dieses Verdachtes nicht, um die
schlechte Haltung der Truppen zu erklären.
In den Trümmern des Schlosses — das fühlte jedermann — hatte
Karls Herrschaft ihr Grab gefunden, und als nun gar einiges aus den
geraubten Briefschaften und dem schwarzen Buche des Herzogs veröffent—
licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die
erbaulichen Geständnisse dieser schönen Seele — wie Metternich seinen
welfischen Liebling einmal nannte — gingen von Mund zu Mund, die
kleinstädtische Klatscherei schwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der
leere knabenhafte Tor galt bei seinem ergrimmten Völkchen bald für einen
Wüterich und Giftmischer. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte
die Ordnung sogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen
umher, jetzt nach Pariser Muster mit Flinten bewaffnet, unter der Füh-
rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unschuldiger
diese Philister an dem Schloßbrande waren, um so kühner prahlten
sie mit ihrer Revolution. Paris, Brüssel und Braunschweig bildeten
das Dreigestirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte,
der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräte gebeten hatte,
hieß mindestens ein halber Lafayette. General Herzberg wurde durch
das Geschenk eines bürgerlichen Ehrensäbels dafür getröstet, daß die
preußischen Kameraden ihn mit sehr zweifelhaften Blicken betrachteten;
denn „der heutige Soldat“ — so versicherte eine braunschweigische Flug-
schrift — „ist nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorsam
dressierte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts“. Ein Bürgergardist drohte
dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200 000 Braunschweiger würden
sich lieber unter dem Schutte ihrer Häuser begraben, als sich unter die
Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer
Abhandlung „den freiwilligen Gehorsam“ als den eigentümlichen Vorzug