Revolution in Brüssel. 35
Konvents vom Jahre IV der Republik, das die belgischen Departements
mit Frankreich vereinigt hat, besteht noch immer zu Recht. Die Mehr—
heit der Belgier wies diese Anschläge weit von sich. Darum wurden
auch die republikanischen Pläne, mit denen de Potter sich trug, kurzerhand
abgelehnt; denn nur durch Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg
konnte sich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer
monarchischen Verfassung durften die Belgier auf die Zustimmung der
großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube—
rufene nationale Kongreß die verständigen, durch die Lage der Dinge ge—
botenen Beschlüsse: Unabhängigkeit, Monarchie, Lossagung vom Hause
Oranien.
So errang sich dies mehr durch die kirchliche Gesinnung als durch
das Bewußtsein politischer Gemeinschaft zusammengehaltene kleine Volk
das Recht der Selbstbestimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem
Aufstande mißtrauisch zugesehen, da sein Ursprung unklar war und
der belgische Pöbel sich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen
Brüsseler Straßenkampfe schlug das Urteil gänzlich um. Auch Brüssel
hat seine drei Tage und seine drei Farben! — schrieb frohlockend
Ed. Gans, und seine Gesinnungsgenossen in der liberalen deutschen
Presse entdeckten mit wachsender Bewunderung Zug für Zug immer neue
Ahnlichkeiten zwischen Belgien und dem Musterlande der Freiheit: sie
nannten de Potter den belgischen Lafayette, Jouvenels Brabançonne die
belgische Marseillaise. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marseillaise
— was brauchte ein Volk mehr, um glücklich zu sein? und wer außer
den entmenschten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch bestreiten, daß
die Sonne über Europa im Westen aufging? —
Die so lange niedergehaltenen Parteien der deutschen Opposition
atmeten fröhlich auf, als die erste Kunde von der großen Woche über
den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radikalen Jugend das Wort
von den Lippen, da er in übermütigem Jubel die Pariser Zeitungen als
in Papier gewickelte Sonnenstrahlen begrüßte: „Lafayette, die dreifarbige
Fahne, die Marseillaise — fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich
weiß jetzt wieder, was ich will, was ich soll, was ich muß. Ich bin der
Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber
meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen. Blumen, Blumen! Ich
will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und
Gesang, ganz Schwert und Flamme!“ Mächtig wie die Freude im libe-
ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachsender Be-
sorgnis waren sie sämtlich den vermessenen Unternehmungen Polignacs
gefolgt; eine so furchtbare Erschütterung, die das ganze mühsame Friedens-
werk der Wiener Verträge wieder in Frage stellte, kam ihnen doch allen
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