612 IV. 8. Stille Jahre.
Urteil über 204 Studenten. 192 wurden verurteilt, ihrer viele zum
Tode. An die Möglichkeit solcher Hinrichtungen glaubte aber niemand
mehr; der König verwandelte die Strafe erst in dreißigjährige, dann in
achtjährige Festungshaft; gänzlich begnadigt wurden nur wenige. Kamptz
pflegte zu sagen: Burschenschaft ist Burschenschaft; darum durften auch
der junge Historiker Max Duncker und die anderen gut königlich gesinnten
Bonner Burschenschafter dem Gefängnis nicht entgehen.
Nicht ganz so unschuldig war der engere Kreis der Jenenser Ger—
mania, dort wurden sehr verwegene Reden geführt und wohl auch mit
den Flüchtlingen törichte Briefe gewechselt. Doch die Mehrzahl auch dieser
Burschenschaft bestand aus harmlosen jungen Leuten, die sich ganz zu-
frieden fühlten, wenn sie nur die Farben des einigen Deutschlands auf
der Brust trugen. Zu ihnen zählte der Mecklenburger Fritz Reuter. Der
hatte seine ganze Zeit gewissenhaft auf der Kneipe oder auf Spritzfahrten
verbracht und wußte von den ruchlosen Anschlägen seiner eingeweihten Ge-
nossen so gar nichts, daß der Untersuchungsrichter ihn anfangs für einen
ungewöhnlich verstockten Verbrecher hielt; erst allmählich wurde Dambach
milder gestimmt und sagte: „gefährlich scheint er nicht als Anhänger
staatsverderblicher Lehren, sondern als Taugenichts.“ Sieben Jahre hin-
durch wurde dem Armen „der lebendige Strom seines Lebenswegs zu
einem See aufgestaut“; erst lange nach seiner Befreiung entschloß er sich,
die Erinnerungen „ut mine Festungstid“ niederzuschreiben, und der treu-
herzige, durch Tränen lächelnde Humor seiner harmlosen Erzählung be-
leuchtet den Aberwitz dieser Demagogenjagd fast noch greller, als der sal-
bungsvolle religiöse Ernst der Kerkergeschichte Silvio Pellicos, le mie pri-
gioni. Solche Martern, wie sie die Grausamkeit des Kaisers Franz über
Pellico verhängte, blieben den preußischen Demagogen freilich erspart;
aber wie viele der jungen Männer verkamen in dem zwecklosen Einerlei
des Gefängnislebens. Manche gingen unter in Trunk und Müßiggang,
manche verbitterten für immer; nur wenige vermochten sich so gewaltsam
zu überwinden, wie Max Duncker, der bald einsah, daß auch das unvernünf-
tige Gesetz Gehorsam erheische, und ruhig sagte: mit Recht mußte ich büßen,
weil ich mich gegen das Gesetz des Staates verfehlt hatte.
Nachhaltigerevolutionäre Leidenschaftzeigten diese gutherzigen deutschen
Naturen sehr selten; selbst den erklärten Radikalen füllte die Politik doch
nicht das ganze Leben aus. Da war keiner, der, wie einst der gefangene
Mazzini in seinem Adlerneste bei Savona hoch über dem Mittelmeer, Tag
für Tag nur an die Befreiung seines Vaterlandes gedacht hätte. Wie
drohend, wie aufrührerisch hatte einst Wilhelm Cornelius in seinem Straß-
burger „Konstitutionellen Deutschland“ geredet*); alser nach einigen Jahren
Haft die Festung Graudenz verließ, erschien er wie ausgetauscht und schrieb
*) S. o. IV. 227. 233.