Der Meerengenvertrag. 117
Dergestalt nahm dieser große diplomatische Kampf, der langwie—
rigste, welchen Europa seit dem belgischen Streite erlebt hatte, ein armseli—
ges Ende. Im Grunde konnte sich nur der Sultan des Ausgangs freuen.
Er war durch die vier Mächte vor den Folgen einer schmählichen Nieder—
lage bewahrt worden und durfte nunmehr hoffen, unbelästigt durch einen
tatkräftigen Hausmeier sein nichtiges Schlummerleben noch eine gute
Weile fortzuführen. Selbst die Erbherrschaft des Rebellen am Nil ließ
sich zur Not ertragen. Den Osmanen galt sie keineswegs für eine un—
abänderliche Tatsache, weil Mehemed Alis Geschlecht nicht heilig war
und der Orient ein gesichertes Thronfolgerecht kaum kennt. Die Fäul-
nis des Reiches der Sultane hatte sich freilich so grell offenbart, daß
sogar H. v. Moltke, der den Türken so viel edle Kraft geopfert hatte, jetzt
in der Allgemeinen Zeitung rundweg aussprach, ein christlich-byzantinisches
Reich müsse dereinst die Erbschaft am Bosporus antreten. Vorläufig je-
doch stand der Halbmond auf der Kuppel der Hagia Sophia wieder fest,
und bei der Eifersucht der Franken blieb es sehr zweifelhaft, wann jemals
das Kreuz wieder über dem Christendome Justinians glänzen würde. Noch
mehr, die Türkei war jetzt zum ersten Male in eine europäische Konferenz
als vertragschließende Macht eingetreten und hatte also, vornehmlich
durch Englands Schuld, in der Völkergesellschaft des Abendlandes eine
Stellung erlangt, welche ihr in keiner Weise gebührte; denn das euro-
päische Völkerrecht beruht auf der christlichen Idee der Verbrüderung der
Nationen, der Koran hingegen kennt nur zwei Reiche auf Erden, das
Reich des Islams und das Reich des Krieges, mithin darf ein moham-
medanischer Staat die Grundgedanken völkerrechtlicher Gleichheit und
Gegenseitigkeit nicht ehrlich anerkennen. Die vielverheißene Gleichberech-
tigung der Rajahvölker mußte ein leeres Wort bleiben, weil die Herr-
schaft der Gläubigen über die Ungläubigen eben das Wesen dieser un-
wandelbaren theokratischen Verfassung ausmachte; noch immer diente kein
einziger Christ im türkischen Heer, das ja ausdrücklich zur Knebelung der
Christen bestimmt war. Die Aufnahme eines solchen Staates in die
Rechtsgemeinschaft der christlichen Völker war eine häßliche Unwahrheit;
sie wurde jedoch von der aufgeklärten liberalen Welt, die sich der christlichen
Grundlagen unserer Kultur nur ungern erinnerte, als ein erfreulicher Fort-
schritt der Gesittung gepriesen; praktisch schien sie darum erträglich, weil
die Pforte im Gefühle ihrer Schwäche sich bald von einer, bald von meh-
reren der christlichen Mächte leiten ließ.
Wie man in Petersburg die Londoner Verträge ansah, das hat Nessel-
rode 1850 ausgesprochen in einem Rechenschaftsberichte über die auswärtige
Politik des letzten Vierteljahrhunderts, den er dem Zaren zum Regierungs-
jubelfeste überreichte. Da schilderte er — aufrichtig wie er unter vier
Augen sprechen durfte, und mit einer fast mongolischen Ruhmredigkeit:
— erst die Juli-Revolution habe der Regierung des Kaisers „den wahren