238 V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
ihm zu viele unverarbeitete Kenntnisse eingeprägt wurden, einer gefähr—
lichen Halbbildung und Anmaßung verfallen. Schon in den zwanziger
Jahren bemerkte Harnisch, der verdiente Direktor der Seminarien von
Breslau und Weißenfels: die althergebrachten Sünden der Roheit und
Dieberei würden unter seinen Zöglingen seltener, dafür nähmen Dünkel
und Weltsinn überhand.
Bedenklicher war, daß die Volksschule, die ja den großen Wandlungen
der Ideen immer nur in einigem Abstande folgen kann, an dem erstar—
kenden religiösen Leben der drei letzten Jahrzehnte kaum teilgenommen
hatte. Sie stand noch immer unter der Herrschaft der Lehren Pestalozzis.
Wohl war es einst eine schöne Zeit der Erweckung gewesen, als der edle
schweizerische Sonderling den verknöcherten Schulunterricht auf die leben—
dige Anschauung und Selbsttätigkeit zu begründen unternahm, als er in
Lienhard und Gertrud, in dem Buche der Mütter die Erzieher lehrte, sich
liebevoll in das Seelenleben ihrer Zöglinge zu versenken. Damals be—
wunderten ihn fast alle namhaften Männer Deutschlands, die gläubigen
Stein und Arndt so gut wie der radikale Fichte, und Königin Luise dankte
ihm im Namen der Menschheit. Aber der Gedanke der abstrakten, allge—
meinen Menschlichkeit, der ihn, den Illuminaten, den Ehrenbürger der
französischen Republik begeisterte, konnte dem vertieften religiösen Gefühle,
der schärferen historischen Kritik dieser neuen Tage längst nicht mehr ge—
nügen. Alle praktische Humanität der modernen Geschichte — das begann
man endlich zu begreifen — wurzelte, bewußt oder unbewußt, im Chri—
stentum, in der Idee der Gotteskindschaft, in dem königlichen Gesetze der
Liebe; der Herzenshärtigkeit der heidnischen Völker, die sich allesamt für
die auserwählten ansahen, war sie immer fremd geblieben, wenngleich
einzelne große Denker sie als ein theoretisches Ideal verherrlichten. Zu
menschlicher Freiheit konnte die moderne Jugend nur durch eine christlich—
religiöse Erziehung herangebildet werden; und dies galt vornehmlich von
den Volksschulen, denn ein hellenisches Sittlichkeitsideal, wie es etwa einem
Wilhelm Humboldt vorschwebte, war wesentlich aristokratisch und schloß die
Banausen aus, denen nur die demokratische Moral des Christentums
Trost und Frieden zu bringen vermochte. Pestalozzi selbst hatte diese
Wahrheit allmählich begriffen und sich im Alter dem lebendigen Christen—
glauben zugewendet. Die Mehrzahl seiner Schüler und Anhänger da—
gegen hing noch immer an dem alten Wahne, daß man dem Baume der
Menschenliebe seine christlichen Wurzeln abgraben und doch im Schatten
seines Wipfels sich lagern könne. Ein freundlicher, bequemer Rationalismus
herrschte in den Volksschulen vor; der Religionsunterricht behauptete keines-
wegs überall seine natürliche Stellung in der Mitte des Lehrplans. Seit
der Kabinettsordre vom 23. März 1829 wurde die Errichtung von Simultan-
schulen immer begünstigt, wenn die Gemeinden sich darüber freiwillig einig-
ten und für konfessionelle Schulen nicht die genügenden Mittel besaßen;