Volksschulen. Diesterweg. 239
indes war die Zahl dieser gemischten Volksschulen noch gering, am stärk—
sten in den polnischen Landesteilen, da sie hier zur Verbreitung der
deutschen Sprache mitwirkten, und man bemerkte bald, daß sie den kon—
fessionellen Gegensatz öfter verschärften, als milderten. Wo sich kirchliche
Gleichgültigkeit in den Volksschulen zeigte, da lag die Schuld meistens an
der Gesinnung der Lehrer, zumal der evangelischen.
Der anerkannt erste Mann des preußischen Volksschullehrerstandes
war Adolf Diesterweg, der in Nassau-Siegen geboren, lange in Süddeutsch—
land, dann in Elberfeld und Mörs erfolgreich gewirkt hatte, und seit 1832
das Seminar für städtische Lehrer in Berlin, die Musterschule des
Staates leitete, ein grundehrlicher Idealist, volkstümlich derb, arm, be-
dürfnislos, mit vielen Kindern gesegnet, der geborene Schulmeister, mit
Leib und Seele bei der Sache, durch keine Wiederholung je zu ermüden.
Trotz seiner Lebhaftigkeit besaß er auch die größte aller Pädagogentugen-
den, die Gabe sich in der Schule nie zu ärgern; er verstand wie wenige,
seine Schüler zum eigenen Nachdenken zu zwingen, sie vom Konkreten zum
Abstrakten hinaufzuleiten; sie hingen an dem Gestrengen mit leidenschaft-
licher Liebe, und mancher unbeholfene Gymnasiallehrer konnte ihn um
seine wirksame Lehrmethode beneiden. Unter Altenstein genoß er das volle
Vertrauen der Schulbehörden und verfaßte in ihrem Auftrage den Weg-
weiser zur Bildung für deutsche Lehrer. Höher hinauf durfte sich seine
fruchtbare streitlustige Feder freilich nicht wagen. Als er auch „über das
Verderben der deutschen Universitäten“ mit der ganzen Unfehlbarkeit des
Schulmeisters schrieb, da wurde er von Leo und anderen Gelehrten in
seine Schranken verwiesen; denn die Welt der klassischen Bildung blieb
ihm unverständlich, und niemals konnte er begreifen, daß die akademische
Freiheit Lehrer wie Lernende in edlerem Sinne erzieht als der Schul-
zwang.
Auch in seinem religiösen Denken vermochte er nicht, wie sein
Vorbild Pestalozzi, fortzuschreiten mit der wachsenden Zeit; er ver-
harrte vielmehr in dem Bannkreise des alten Rationalismus. Die
trivialen Wundererklärungen der Dinterschen Schullehrerbibel schienen
ihm allerdings gar zu platt. Er wünschte jedoch einen konfessionslosen
Unterricht im vernunftgemäßen Christentum, einen Unterricht, der sich
auf Gebet, biblische Geschichte, Sittenlehre beschränken, Katechismus und
Gesangbuch verschmähen sollte, also in Wahrheit lediglich dem subjektiven
Belieben des Schulmeisters anheimfallen mußte. Da er überall darauf
ausging, seine Zöglinge selbst die Wahrheit finden zu lassen, so hielt er
es für eine geistlose Abrichtung, wenn sie nach dem alten Schulgebrauch
gezwungen wurden, halbverstandene Bibelverse und Gesangbuchlieder aus-
wendig zu lernen, und auch die kirchenfeindliche Presse wähnte sehr klug
zu handeln, wenn sie beständig gegen das öde Memorieren eiferte. Dieser
weltliche Wissensdünkel vergaß ganz, daß religiöse Wahrheiten auch von