350 V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Der getreue Thile fürchtete schon, daß der Thronfolger durch die Kraft
seines Charakters die Herrschaft im Ministerrate erlangen könnte, und
warnte: „Der Prinz hat in hohem Grade die Gabe der Ausdauer und
Energie in dem, was er will und verfolgt, und jede Erfahrung, daß er auf
dem Wege des beharrlichen Widerspruchs seinen Zweck erreicht, wird ihn
darin nur bestärken.“*)
Schließlich erlangte der Thronfolger doch so viel, daß, statt eines Ge-
setzes, am 23. Juli 1845 nur eine „General-Konzession“ veröffentlicht
wurde.**) Sie sicherte den Altlutheranern alle bürgerlichen Rechte zu, ge-
stattete ihnen die Bildung von Kirchengemeinden unter einem gemeinsamen
Vorstande, erklärte ihre Taufen und Trauungen für rechtsgültig, sobald
sie den Gerichten angezeigt würden; nur der Name Kirche sollte den Bet—
häusern versagt bleiben. Welch ein Widerspruch, daß also eine Kirche,
die doch älter war als die unierte Landeskirche selbst, jetzt nachträglich eine
bedingte Anerkennung erhielt! Immerhin ward den Bedrängten endlich
eine Sühne alten Unrechts; sie bildeten, etwa 50 000 Köpfe stark, nun-
mehr eine Kirchengemeinschaft mit dem Mittelpunkte Breslau, die sich in
ihrem frommen Stillleben sehr engherzig zeigte und sogar die „gemischten
Ehen“ von Lutheranern und unierten Evangelischen zwar nicht geradezu
verbot, doch für seelengefährlich erklärte. Alles was einst Thomasius vor
anderthalb Jahrhunderten über diese Ehefragen geschrieben, und der ganze
große Wandel der Zeiten seitdem war für den konfessionellen Starrsinn
nicht vorhanden. Bald darauf erwachte der lutherische Sondergeist auch
in der unierten Kirche selbst; Superintendent Otto und andere streng
lutherische Geistliche von den Odermündungen unternahmen, innerhalb
der Union eine geschlossene altpommersche Landeskirche zu bilden.
Weit gefährlicher erschienen dem Könige die radikalen Protestanten,
die jetzt in der alten Heimat der Aufklärung, der Provinz Sachsen ihre
Stimmen erhoben. Hier begann das kirchliche Zerwürfnis schon in den
letzten Tagen des Ministeriums Altenstein. Bischof Dräseke, der gewaltige
Kirchenredner, geriet in einen heftigen Kanzelstreit mit dem Prediger Sin-
tenis, der die Anbetung Christi feierlich verdammt hatte. Wie ein Mann
traten die Berliner Orthodoxen für den Bischof ein, obgleich er keines-
wegs zu ihrer Partei gehörte. In der Provinz dagegen mindestens unter
den älteren Geistlichen und im Kleinbürgertum, herrschte noch durchaus
die Schule der rationalistischen Hallenser Wegscheider und Gesenius; der
vor kurzem noch hochgefeierte Bischof sah sich plötzlich in Zeitungen und
Flugschriften schonungslos angegriffen. Da suchte Eichhorn den Frieden
herzustellen, indem er beiden Gegnern Stillschweigen gebot. Eine solche
Demütigung wollte der stolze Prälat nicht ertragen; er fühlte, daß er
*) Thiles Bericht an den König, 17. März 1845.
**) Thile an Bodelschwingh, 14. Juli 1845.