Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

360 V. 4. Die Parteiung in der Kirche. 
Das Patent brachte endlich Klarheit in verdunkelte Rechtsverhält— 
nisse. Gleichwohl erntete der König keinen Dank dafür; denn man 
fürchtete allgemein, daß die den Dissidenten so großmütig gewährte Frei— 
heit zugleich als ein Mittel dienen sollte, um das doktrinäre Ideal einer 
sichtbaren Kirche von Gläubigen zu verwirklichen und die Zweifelnden aus 
der Landeskirche zu verdrängen. So geschah es auch. Rupp, Uhlich, Wisli- 
cenus hatten sich inzwischen mit ihren Anhängern zu freien Gemeinden 
zusammengetan; gleich ihnen der Prediger Baltzer in Nordhausen, auch 
er ein grundguter, herzensfrommer Mann, bekannt durch sein phrasen- 
reiches Gedicht: 
Luthers Geist er macht euch frei 
Von des Wahnes Tyranneil 
Sie alle sahen sich nunmehr gezwungen, die Landeskirche zu verlassen; 
Rupp ward auch aus dem Gustav Adolf-Vereine ausgeschlossen, weil ihn die 
Mehrheit nicht mehr für einen Christen gelten ließ. Gegen Uhlich war 
der König besonders aufgebracht; er nannte ihn undankbar, da er ihm doch 
„unerhörte Schonung“ erwiesen, seine Berufung nach Magdeburg nicht 
gehindert hätte.) 
Die Magdeburgische Gemeinschaft schien anfangs kräftig zu gedeihen, 
sie zählte 5000 Köpfe und war nicht arm an Werken christlicher Liebe. 
Bald aber erfüllte sich auch an ihr wie an allen anderen freien Ge- 
meinden die alte Wahrheit, daß sich eine Kirche nicht auf Verneinungen 
aufbauen läßt. Zumal im deutschen Volke, das für die Sektiererei 
niemals viel Sinn gehegt hat, konnten sich kleine Sonderkirchen immer 
nur dann behaupten, wenn sie durch die Kraft mystischer Verzückung, be- 
geisterter Glaubensinbrunst getragen wurden. Von alledem zeigte sich 
hier keine Spur. Die rohe Kritik des ungeschulten Verstandes drängte die 
freien Gemeinden von einem Nein zum andern. Manche verzichteten 
bald auf jedes Bekenntnis, andere auf die Sakramente; in Magdeburg 
wirkte eine Zeitlang ein ungetaufter Jude mit; Wislicenus' Hallische Ge- 
meinde gab selbst den Namen einer kirchlichen Gemeinschaft auf und hielt 
ihre Versammlungen unter den heiteren Klängen der Pickelflöte. 
Da die Volksversammlungen der Lichtfreunde schon im August 1845, 
nach dem Vorgange Sachsens, verboten wurden, soverschwand die neugierige 
Teilnahme des großen Publikums schnell, und als nunmehr die Politik 
alle Leidenschaften der Zeit in Anspruch nahm, da wurden auch die freien 
Gemeinden in die Wirbel der politischen Organisation hineingerissen. Das 
Strohfeuer der religiösen Erregung verflackerte, die Mehrzahl der Genossen 
ging in das demokratische Lager über. Uhlichs Freund, der nach Bremen 
übergesiedelte Prediger Dulon ward ein Apostel des wilden Radikalismus, 
während Uhlich selbst auch in der Politik seine kleinbürgerliche Ehrbarkeit 
  
*) König Friedrich Wilhelm an Eichhorn, 3. Juni 1846, an Thile, 19. April 1847.
	        
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