378 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
täuscht aus dem „Land voll träumerischem Trug“ heimgekehrt war, ver-
suchte er sich an größeren Werken.
In der lockeren, echt modernen Kunstform des lyrischen Epos, die in
England seit Scott und Byron heimisch, den Deutschen noch wenig ver-
traut war, konnte Lenaus allezeit schwärmerisch erregter und doch nach
Gestaltung drängender Geist sich am freiesten entfalten. Die harmonische
Schönheit der Goethischen Dichtung war ihm so unheimlich wie des Alt-
meisters heitere Lebensweisheit; er wollte der Menschheit durch richtende
und befreiende Worte das Bewußtsein ihrer Ewigkeit erwecken. Doch der
Drang der Erkenntnis gereichte dem Grübler zum Fluche; furchtbare
Zweifel zerrissen und zermarterten sein krankes Herz, sein Weltschmerz
war ehrlich und endete im Wahnsinn. So ward auch der Zweifel, wie
Lenau selbst gestand, der eigentliche Held seiner wirksamsten Dichtung,
der Albigenser. Manche Auftritte des gräßlichen Glaubenskrieges führte
er den Lesern mit erschütternder Gewalt vor die Seele; der Wechsel der
bewegten Versmaße, gefährlich für die Einheit des Ganzen, gab den ein-
zelnen Szenen lebendige Stimmung. Der schlichte evangelische Bibel-
glaube aber, in dem doch gerade die ahnungsvolle Größe, der geistige
Gehalt jenes ehrwürdigen mittelalterlichen Ketzertums enthalten ist, blieb
dem katholischen Zweifler unverständlich; der Dichter strich von seinen
Albigensern alle frische historische Farbe ab und zeichnete sie als die
Vorkämpfer einer ziellosen Freigeisterei, einer modernen, schlechthin ver-
neinenden Gesinnung. Und ganz nach dem Herzen seiner aufgeregten Leser,
ein rechtes Zeichen der Zeit war denn auch die prächtige Schlußvision des
Gedichts, welche die gesamte Weltgeschichte wie einen unendlichen Kampf
der Freiheit wider dumpfen Zwang darstellte:
Den Albigensern folgen die Hussiten
Und zahlen blutig heim, was jene litten.
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürme der Bastille — und so weiter!
Mit wohlbegreiflichem Arger betrachtete Heinrich Heine diese Wand-
lungen unseres geistigen Lebens. Das hohe Pathos der lyrischen Dema-
gogen mußte dem ästhetischen Gefühle des geistreichen Schalks lächerlich
erscheinen, und unmöglich konnte er der Weltgeschichte verzeihen, daß sie
so ganz andere Wege ging, als er geweissagt. Die Deutschen, die hundert-
mal beschimpften, wagten gegen „das aufrichtige und großmütige, bis zur
Fanfaronade großmütige Frankreich“ ihren Willen zu behaupten und
durchzusetzen, sie erdreisteten sich sogar, eine Nation zu werden — was
ihnen Heine doch ein für allemal grinsend verboten hatte; und das
ärgste von allem, das tödlich gehaßte Preußen stand jetzt im Vorder-
grunde der deutschen Politik. Noch immer jammerte Heine in seinen
Schriften kläglich über die schlaflosen Nächte des Exils, das er sich durch
seine deutsche Vaterlandsliebe verdient haben wollte. Dabei bezog er