Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

380 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
innerte, dachte er zu überwinden durch den Atta Troll, einen Sommer- 
nachtstraum, der phantastisch sein sollte, zwecklos wie die Liebe, wie das 
Leben. Er überwand sie nicht, obwohl er zu ihrer Verhöhnung das glück- 
liche Schlagwort erfand „kein Genie, doch ein Charakter“; denn sein 
eigenes Gemüt empfand längst nicht mehr frei genug, um sich unbefangen 
im Spiele des Humors zu ergehen. Der Atta Troll wurde keineswegs, 
wie der Dichter meinte, das letzte freie Waldlied der Romantik, sondern 
gerade durch den bewußten Kampf wider die Tendenz selbst ein Tendenz- 
gedicht; ihm fehlte nicht nur, wie allen größeren Versuchen Heines, die 
geschlossene künstlerische Komposition, sondern auch die Einheit der Stim- 
mung. An dem dünnen Faden einer albernen, nicht einmal drolligen 
Bärengeschichte war allerhand feuilletonistischer Kleinkram aufgereiht: 
Landschaftsschilderungen aus den Pyrenäen, Zauberbilder von der Hexen- 
küche und der wilden Jagd, vornehmlich aber politische und literarische 
Bosheiten jeder Art. Reich an schönen Bildern und bestechenden über- 
mütigen Witzen wirkte das Ganze doch nicht heiter, nicht befreiend. 
Der Waldesduft der unschuldigen Märchenwelt vertrug sich nicht mit dem 
Schwefeläther journalistischer Polemik; die vierfüßigen Trochäen, die nur 
durch das heroische Pathos spanischer Grandezza Kraft und Feuer ge- 
winnen können, klangen hier, wo sie einem komischen Stoffe aufgezwängt 
wurden, eintönig, einschläfernd, wie das Geplätscher aus dem Brunnen- 
rohre. 
Weit freier und ehrlicher, aber auch noch schmutziger und frecher gab 
sich Heine in dem Wintermärchen: Deutschland (1844); er schrieb es nieder, 
nachdem er, völlig unbelästigt durch die Behörden, sein Vaterland noch 
einmal besucht hatte. Hier war alles Tendenzz hier zeigte sich, daß der 
Atta Troll durchaus nicht die prosaische Herabwürdigung der freien Kunst 
bekämpft hatte, sondern lediglich die politische Richtung der neuen Zeit- 
lyriker. Diese jungen Propheten fühlten sich zumeist doch stolz als Söhne 
eines großen Vaterlandes; Heines Tendenz aber blieb nach wie vor, 
alles deutsche Wesen zu verhöhnen, obgleich ihn dann und wann einmal 
ein leises Heimweh beschlich. Er hatte sich seiner Nation entfremdet 
und stand den neuen Ideen, welche Deutschland jetzt durchrauschten, 
ebenso verständnislos, ebenso reaktionär gegenüber, wie einst Nicolai 
und die Berliner Aufklärer unserer jugendlichen klassischen Dichtung. 
Was ihm auch im neuen Deutschland begegnen mochte, alles und jedes 
riß er in den Staub; auf jeder Seite des Wintermärchens kicherte er 
schadenfroh: es wird nichts daraus, es kann nichts daraus werden; und 
den Siegern von Dennewitz und Belle Alliance, die in ihrem neuen 
Helmschmucke so bald wieder zum dritten Male den alten Siegesweg nach 
Paris ziehen sollten, sang er weissagend die Warnung zu: „Des Mittel- 
alters schwerer Helm könnt' euch genieren im Laufen!“ Aber all dieser 
Hohn und Haß kam unzweifelhaft aus den Tiefen des Herzens. Auch
	        
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