392 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
sich doch wieder auf sich selber und wollte nicht mehr bloß vom Abhub
fremder Tische zehren. Die jungen Dramatiker glaubten wieder an die
Zukunft unserer Bühne; die Stücke Gutzkows und Laubes spiegelten
das Leben der Zeit immerhin treuer wieder als die weit zierlicher aus-
gefeilten Dramen des Osterreichers Halm, der, ganz undeutsch, an spa-
nischen Vorbildern geschult, die erkünstelte Unnatur seiner Gestalten nur
durch technisches Geschick und eine melodische, klangvolle Sprache erträg-
lich machte. Für den täglichen Hausbedarf sorgte außer den Wiener Lust-
spieldichtern jetzt auch der Leipziger Benedix, ein lustiger Naturbursch mit
sehr leichtem Gepäck, höchst erfinderisch in derb komischen Situationen.
Wenige Monate vor dem Ausbruch der Revolution erschien auch schon,
in Kalischs erster Posse, die volkstümliche Gestalt Zwickauers auf der
Berliner Bühne. Damit begannen die Blütezeiten der Berliner Posse, die,
begünstigt durch die neue Redefreiheit, durch die politische Erregung, durch
die unaufhaltsame Demokratisierung der Sitte, etwa anderthalb Jahr-
zehnte währen sollten. Alle die lustigen Figuren aus dem niederen Ber-
liner Volksleben, die bisher in Glaßbrenners Flugblättern ihr Wesen
getrieben, traten jetzt auf die Bretter, alle schnippisch, vorlaut, witzig,
selbstbewußt, nicht ohne derbe Gutmütigkeit, und wurden nicht müde, ein-
ander zu schrauben, zu uzen, zu verhöhnen; unerbittlich fegte die freche
Satire über die Höhen und Tiefen des sozialen Lebens dahin; leichte Musik
und kecke Couplets erhöhten noch die komische Wirkung, und es war
sicherlich ein Glück, daß diese überkluge Großstadt wieder lernte, so
herzlich über sich selbst zu lachen. Freilich blieb die Berliner Posse, da
sie so ganz naturwüchsig aus dem märkischen Sande aufstieg, auch allezeit
grundprosaisch; für den romantischen Zauber, der einst die Possen Rai-
munds verklärte, wehte die Luft an der Spree zu scharf.
Der wieder erwachende Schaffensdrang der dramatischen Dichter be-
lebte auch die Schauspielkunst. Einige Theater spielten sehr wacker. Die
Dresdener Bühne, die eine Zeitlang durch Eduard Devrient einsichtsvoll
geleitet wurde, besaß für das Drama an Emil Devrient und Marie
Baier-Bürck, für die Oper an Tichatschek und Wilhelmine Schröder-
Devrient zwei unvergleichliche Heldenpaare. Dort wirkte auch schon im
Orchester der junge Richard Wagner; er errang soeben mit seinem Rienzi
den ersten großen Erfolg und trug sich schon mit dem Plane, die Oper zu
überbieten durch musikalische Tragödien, in denen Musik und Dichtung
völlig verschmolzen und namentlich die dem rezitierenden Drama ver-
sagten großartigen Massenwirkungen erreicht werden sollten.
Eine ganz eigene Stelle, halb in der Zeit, halb außer ihr, wählte
sich der Ditmarsche Friedrich Hebbel, ein ernster, gedankenschwerer, grüb-
trische Nordländer, der in rauher Lebensschule eine düstere, fast hoffnungs-
lose Ansicht von der Menschheit, von den Widersprüchen der modernen Ge-
sellschaft, von der Geschichte Deutschlands gewonnen hatte. Er setzte sich