Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Lists Nationales System. 449 
das Wunder, die Menschen über den Zustand der Tierheit zu erheben. 
Feinere Naturen, die das Undeutsche dieser Lehre empfanden, wollten 
mindestens der weitblickenden Selbstsucht eine solche Wunderkraft zu— 
schreiben, ohne zu bedenken, daß die Selbstsucht nicht weit blicken kann, 
von ihren Niederungen aus das Ganze des Volkslebens nicht zu übersehen 
vermag. Die Theorie beruhte auf einem unhistorischen Optimismus, 
der zwei Großmächte der Weltgeschichte, die Mächte der Dummheit und 
der Sünde ganz verkannte und folgerecht zu dem Schlusse gelangen mußte, 
durch die zunehmende Erkenntnis des eigenen Interesses würde das Ver- 
brechen von selbst aus der Menschheit verschwinden. Wohl lehrten auf 
den deutschen Universitäten Schmitthenner, Eiselen sowie einige andere 
wenig hervorragende Anhänger des Schutzzollsystems, und C. H. Rau 
in Heidelberg, ein besonnener Anhänger der Lehre Smiths, speicherte in 
seinen gründlichen Lehrbüchern ein reiches statistisches Material auf, um 
also aus der Fülle der Erfahrung heraus die einzelnen Sätze des Systems 
zu ergänzen oder einzuschränken. Vorherrschend blieb doch die Meinung, 
daß die Güterwelt überall und jederzeit unwandelbaren Naturgesetzen 
unterworfen sei. 
In dies Traumleben der theoretischen Abstraktion brach nun Lists 
Buch wie ein Wetterschlag herein. Mit dem ganzen Pathos seiner vater- 
ländischen Leidenschaft bekämpfte er den Individualismus und, was im 
Grunde dasselbe sagte, das Weltbürgertum der herrschenden Schule. 
Er zeigte, daß die Volkswirtschaft jeder Nation ein lebendiges Ganzes 
bildet, alle ihre Glieder aufeinander angewiesen sind und „die Individuen 
den größten Teil ihrer produktiven Kräfte von der politischen Organisa- 
tion der Regierung und der Macht der Nation empfangen“. Mit mäßigen 
historischen Kenntnissen, aber mit einem glücklichen historischen Bllicke, 
der trotzdem meistens das Wesentliche herausfand, schilderte er den wirt- 
schaftlichen Entwicklungsgang der großen Nationen, wie sie sich allesamt 
in harten Machtkämpfen mit dem Wettbewerb anderer Völker behauptet, 
ihren heimischen Gewerbfleiß durch Zölle und Monopole geschützt hatten. 
Auf dem Grunde dieser historischen Erfahrungen baute er nun sein 
eigenes Schutzzollsystem auf, das sich von dem alten Merkantilsystem wesent- 
lich unterschied: er suchte den Reichtum der Völker keineswegs in den edlen 
Metallen, aber er erkannte die von den Freihändlern abgeleugnete Be- 
deutung der Handelsbilanz wieder an, da sich an dem Werte und der 
Art der ein= und ausgeführten Waren allerdings die Höhe der wirt- 
schaftlichen Kultur eines Volks annähernd abschätzen läßt; er verlangte 
Schutzzölle als Mittel der Ermunterung und Erziehung, damit neue pro- 
duktive Kräfte, immerhin gegen die Aufopferung von Tauschwerten, ge- 
weckt würden, die Nationen des Festlands sich von dem Drucke der eng- 
lischen Handelsübermacht befreiten und schließlich dahin gelangten, „nur 
von denen zu kaufen, die von uns kaufen.“ Berauscht von dem Anblick 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 29
	        
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