450 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
der jugendlich aufstrebenden nordamerikanischen Welt, sah er in dem Wohl-
stande zumal im industriellen Vermögen schlechthin alles und behauptete
keck, in gleichem Verhältnis mit dem Reichtum wüchsen überall die
Tätigkeit, die Bildung, ja sogar die Sittlichkeit der Nationen. Durch
Wohlstand wollte er sein heißgeliebtes Volk zur Freiheit erziehen, ihm die
Duckmäuserei, das Philistertum, die Wolkenkuckucksheimer Träume aus-
treiben. „Auf der Ausbildung des deutschen Schutzsystems — das blieb
der Grundgedanke — ruht die Unabhängigkeit und Zukunft der deutschen
Nationalität.“
Diesmal täuschte sich sein Seherblick, der sonst selten irrte: Deutsch-
land sollte ohne hohe Schutzzölle sich sein neues Reich erbauen und erst
weit später, als seine politische Macht längst gesichert war, bei gänzlich
veränderter Lage des Weltmarkts sich dem Schutzsollsysteme zuwenden.
Dennoch war seine Schrift ein Markstein in der Geschichte unserer poli-
tischen Bildung. Zum dritten Male regte der kühne Mann, wie einst
bei der Begründung der Handelseinheit und des Eisenbahnwesens, durch
einen weckenden Ruf sein Volk kräftig auf. Er zuerst in Deutschland er-
schloß die Nationalökonomie, die man bisher fast wie eine Geheimlehre
mathematischer Formeln gescheut hatte, durch lebendige, lichtvolle Dar-
stellung dem Verständnis und der Teilnahme aller Gebildeten; er be-
trachtete sie, grundsätzlich absehend von allen fertigen Doktrinen, allein
von dem Standpunkte historischer Erkenntnis und praktischer Geschäfts-
erfahrung; er erwies mit flammender Beredsamkeit und oft stark über-
treibend, daß alle großen volkswirtschaftlichen Fragen nationale Macht-
fragen sind, ihre Lösung über die Selbstbehauptung der Völker entscheidet.
Dies letzte Verdienst war das größte; solche Wahrheiten konnten einem
Volke, das gerade im Handel und Wandel seine fremdbrüderliche Schwach-
heit zeigte, ausländische Waren würdelos bevorzugte, nicht laut, nicht
scharf genug gesagt werden. Darum entsetzten sich auch alle Ausländer,
die auf Deutschlands Schwäche rechneten, über Lists Werk. Die eng-
lische Presse jammerte scheinheilig: wie sei es nur möglich, daß unter den
humanen, gebildeten Deutschen eine so barbarische Gesinnung volkstüm-
licher Ausschließlichkeit auftauche; und selbst Graf Camillo Cavour nannte,
da er die Freihandelslehren noch kurzweg als die rette dottrine bewun-
derte, das Buch des Schwaben eine krankhafte Ausgeburt des überspannten
Nationalstolzes.
Die Fachwissenschaft wurde von Lists Ideen zunächst nur wenig be-
rührt; ihm selbst lag ja auch nichts ferner als der Ehrgeiz des Gelehrten.
Es geschieht aber nicht selten, daß die schöpferische Kraft der Geschichte die
notwendigen, der Zeit gemäßen Gedanken gleichzeitig aus ganz verschie-
denen Quellen hervorspringen läßt. Unabhängig von List, allein durch
wissenschaftliches Nachdenken hatte sich mittlerweile der junge Hannove-
raner Wilhelm Roscher, der bald in Leipzig heimisch wurde, den Plan ge-