W. Roscher. Das Zollvereinsblatt. 451
bildet für seine reiche Gelehrtentätigkeit. Er wollte der Nationalökonomie
das historische Verständnis erwecken, das die Rechtswissenschaft den Werken
Savignys, Eichhorns, Niebuhrs verdankte. In einem kleinen Grundriß
für Vorlesungen (1843) zeichnete er zuerst die Umrisse seiner historischen
Methode; er faßte die Volkswirtschaft als eine Welt des Werdens auf
und suchte überall zu zeigen, daß die Theorie nur relative Wahrheiten
finden kann, daß dieselben Institutionen, die das jugendliche Volk erheben,
dem gereiften zur Fessel werden. Ein Gelehrter von ausgebreitetem Wissen,
ebenso bescheiden, gerecht, friedfertig, wie List trotzig, parteiisch, kampflustig
war, stimmte Roscher auch in dem Streite des Tages keineswegs mit dem
schwäbischen Agitator überein, da er den freihändlerischen Gedanken weit
näher stand. Gemeinsam war den beiden nur der historische Sinn und
die Erkenntnis der sittlichen Mächte des wirtschaftlichen Lebens. Wäh—
rend Lists Buch einen leidenschaftlichen Parteikampf entzündete, machte
Roschers Grundriß langsam, ganz in der Stille seinen Weg; aus den
Anregungen, die hier zuerst gegeben wurden, ging nach und nach eine
neue, realistisch-historische Auffassung der Volkswirtschaft hervor, und es
entstand im Laufe der Jahre eine deutsche nationalökonomische Schule,
die fest auf eigenen Füßen stehend sich dem Auslande bald überlegen
zeigte.
List säumte nicht, die Silberbarren seines „Nationalen Systems“ in
kleine Münzen umzuprägen. Er gründete (1843) das Zollvereinsblatt,
und um das Banner dieser streitbaren Zeitschrift scharte sich bald die
gesamte Schutzzoll-Partei des Südens, vornehmlich der junge Stand der
Fabrikanten und Techniker, der viele auf den neuen Gewerbschulen gut
gebildete, tüchtige und rührige Männer in seinen Reihen zählte. In
Baden drang die Bewegung tief ins Volk, weil dort die neuen Fabriken
meist durch Aktiengesellschaften gegründet waren, viele Bauern und kleine
Bürger sich am Aktienkaufe beteiligt hatten. Manche Forderungen der
Partei waren sachlich wohl begründet, doch unverkennbar wirkte auch die
kleinstädtische Weltanschauung mit. Preußens soziale Freiheit blieb den
Süddeutschen noch versagt, und wie sie gewohnt waren, für Heirat und
Niederlassung stets die Genehmigung der Obrigkeit einzuholen, so erwar—
teten sie auch in der Handelspolitik alles Heil von oben. In Württem—
berg zeichnete sich der Eßlinger Fabrikant Deffner durch seinen Eifer aus,
in der badischen Kammer der feurige Redner Sander, am Rhein Berg—
rat Böcking zu Saarbrücken. Das mächtige Bankhaus Haber in Karls—
ruhe versorgte einen großen Teil der süddeutschen Zeitungen mit schutz-
zöllnerischen Korrespondenzen, auch Cotta stellte die Allgemeine Zeitung
und die Deutsche Vierteljahrsschrift der Schutzzoll-Partei zur Verfügung.
Nicht lange, so galt es im Süden für ausgemacht, daß jeder Liberale
ein Schutzzöllner, jeder Freihändler ein Reaktionär sein müsse. Wieder
einmal zeigte sich, daß List wohl aufregen und beleben, doch nicht Maß
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