Kolonien. Auswanderung. 491
Auf solche Torheiten verfielen deutsche Diplomaten, weil sie ohne
Flotte überseeische Politik treiben wollten; die Warnungen des Prinzen
Adalbert bestätigten sich nur zu sehr. Auch der Hamburger Sieveking
konnte gegen Englands Widerspruch nichts ausrichten, als er die neusee—
ländischen Chatham-Inseln für Deutschland zu erwerben suchte. Zudem
hatte sich das öffentliche Urteil über die Bedeutung kolonialen Besitzes
noch keineswegs geklärt. Sehr tüchtige deutsche Männer hielten das Zeit—
alter der Kolonialpolitik für überwunden und abgetan, derweil England
fortfuhr, Jahr für Jahr neue zukunftsreiche Pflanzungsländer in allen
Weltteilen zu erwerben; sie machten aus der Not eine Tugend und priesen
Deutschland glücklich wegen der binnenländischen Beschränktheit seines po—
litischen Lebens. Selbst der beredte Verteidiger der nationalen Handels—
politik Heinrich v. Arnim behauptete: der Zollverein könne eben deswegen
günstige Handelsverträge schließen, weil er glücklicherweise keine Kolonien
besitze. Seit dem Abfall der Union und des spanischen Amerikas galt
es im Lager der radikalen Freihändler für ausgemacht, daß jede zur Reife
gelangte Kolonie sich unfehlbar von dem Mutterlande losreißen müsse.
Man bemerkte nicht, daß jene beiden großen Revolutionen durch ganz eigen-
artige historische Verhältnisse bedingt waren und sich nicht notwendig
überall wiederholen mußten; man bemerkte noch weniger, wie Großes
England und Spanien, trotz des politischen Abfalls ihrer Kolonien, durch
die weite Verbreitung ihrer Nationalität, ihrer Sprache und Sitte in
der Welt gewonnen hatten. Der Erdkreis war jetzt aufgedeckt, eine neue bar-
barische Völkerwanderung nicht mehr zu befürchten; die Massenaristokratie
der Europäer begann sich in die Herrschaft der überseeischen Welt zu teilen,
und an diesem ungeheueren Kampfe, welcher die zweite Hälfte des Jahrhun-
derts füllte, nahmen die Deutschen nur einen sehr bescheidenen Anteil.
Die Auswanderung, die ihren Weg noch immer fast ausschließlich nach
Nordamerika nahm, verdreifachte sich in kurzer Zeit, sie wuchs in den Jahren
1840—47 von 34 000 auf 110 000 Köpfe. Auch Preußen, das sich bisher
durch seine freie soziale Gesetzgebung leidlich geschützt hatte, blieb von der
Bewegung nicht mehr unberührt; im Jahre 1846 wanderten mehr denn
16 000 Preußen aus, die Mehrzahl aus den winzigen Landgütern des
dichtbevölkerten Regierungsbezirks Trier. Da die Demagogenverfolgung
vorläufig aufgehört hatte, so befanden sich jetzt unter den Ausziehenden nur
wenige gebildete Männer; alle anderen überragte der Thüringer J. A. Röb-
ling, ein genialer Ingenieur, der durch seine Drahtseilbahnen und Hänge-
brücken bekannt, nachher durch die Überbrückung des Niagara und des
East River weltberühmt wurde. Die kleinen Leute aus den süddeutschen
Dörfern, die den Stamm der Auswanderer bildeten, mußten schon auf
der Überfahrt viel leiden, weil die elenden Segelschiffe in den Hanse-
städten keiner strengen Aufsicht unterlagen. Drüben verschwanden sie
meist sehr schnell in dem übermächtigen fremden Volkstum; die Turn-