528 V. 7. Polen und Schleswigholstein.
selber bei den königlichen Verwandten in Potsdam, nach seiner Gewohnheit
alle überraschend, und fuhr am nächsten Morgen weiter, um die Königin
Victoria zu besuchen.
In England wurde der unerwartete Gast mit Ehrenbezeigungen über—
schüttet. Man erlaubte ihm sogar, allem britischen Hofbrauche zuwider,
in Uniform zu erscheinen; denn in bürgerlicher Kleidung fühlte er sich
unbehaglich, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte. Die Damen
der vornehmen Welt wollten gerade in diesen Tagen, wie alljährlich, einen
großen Polenball abhalten mit einer Sammlung zum Besten der Flücht—
linge; nun fragten sie sich ängstlich, ob man unter den Augen des Zaren
eine solche Feindseligkeit wagen dürfe. Da richtete Brunnow ein sanftes
Brieflein an die Lady Patroneß, die Herzogin von Somerset: „ich bin
von Sr. Majestät beauftragt, mich mit jeder Summe zu unterschreiben,
deren Sie für Ihren wohltätigen Zweck etwa noch zu bedürfen glauben.“*)
So ward die politische Absicht des Festes vereitelt, in aller Höflichkeit und
zur großen Entrüstung der polnischen Flüchtlinge. Nikolaus erwies der
jungen Königin ritterliche Ehrfurcht, ihren Kindern väterliche Zärtlichkeit,
er pries begeistert die Reize Windsors und des englischen Landlebens.
Immer sprach er im Tone des offenherzigen Biedermannes: ich weiß es
wohl, man nennt mich einen Schauspieler, ich sage aber meine Meinung
stets gerade heraus. Dem Lord Aberdeen beteuerte er gemütlich: ich
habe den Bund der Westmächte niemals beargwöhnt, sondern ihn immer
für eine Bürgschaft des Weltfriedens gehalten.
Wie konnte er hoffen, die nüchternen englischen Rechner durch solche
Künste zu täuschen? Und was sollten sie gar denken, wenn er ihnen sagte:
ihr haltet die Türkei für todkrank; ich glaube, sie ist schon tot, also müssen
wir uns über das Schicksal ihrer Trümmer verständigen. Ich will keine Er-
oberungen; der Besitz Konstantinopels würde leicht die Einheit Rußlands,
die Zukunft der russischen Nation gefährden. Aber ein byzantinisches Reich,
wie es König Otto und die Griechen zu erhoffen scheinen, kann ich nicht
dulden. Das hieße mich selbst vernichten vor meinem Volke und meiner
Kirche. Zu irgend einem anderen Abkommen bin ich bereit, und ich hoffe,
daß England mich dabei gegen Frankreich unterstützen wird. Der gradsinnige
Peel und der gutmütig beschränkte Aberdeen glaubten wirklich, der Zar
sage die Wahrheit; doch auch sie fühlten, wie Prinz Albert und Wellington,
den eigentlichen Sinn seiner Worte heraus. Sie erkannten, daß Rußland
unter keinen Umständen eine selbständige Macht auf der Balkanhalbinsel
zu dulden gewillt sei; und da England stillschweigend entschlossen war, die
Bosporuslande nötigenfalls mittelbar oder unmittelbar sich selber anzu-
eignen, so führten die höfischen Gespräche nur zum Austausch nichtssagen-
der Artigkeiten. *) H. v. Moltke schrieb in diesen Jahren: die Teilung
*) Brunnow an die Herzogin v. Somerset, 5. Juli 1844.
**) Berichte von Thile, London 7. 10. Juni, von Bunsen, 2. Sept. 1844.