Der zweite türkisch-äghptische Krieg. 65
zugleich ward Englands Feindschaft immer bedrohlicher. Seit den Tagen
der Quadrupelallianz hegte Palmerston einen heißen, stillen Groll gegen
die unzuverlässigen französischen Freunde. Wie oft war er damals von
Talleyrand überlistet worden; 7) dies verzieh er nie, denn nach seiner An-
schauung besaß allein die englische Diplomatie das Recht, ihre Bundes-
genossen zu betrügen. Das gerühmte herzliche Einvernehmen der West-
mächte bestand nur noch dem Namen nach. Obwohl der Lord von den
Verhältnissen des Orients und der Kolonien sehr wenig wußte, so besaß
er doch ein sicheres instinktives Gefühl für die Größe seines Landes; nie-
mals glaubte er an die neue Lehre der Freihandelsschule Richard Cobdens,
daß jede Kolonie sich vom Mutterlande losreißen müsse und Großbritannien
durch seinen transatlantischen Besitz nur geschwächt würde. Er erkannte so-
gleich, Englands Machtstellung im Mittelmeere sei verloren, wenn Mehemed
Ali über die schwachen Zwischenländer hinweg den Franzosen in Algier
die Hand reichte. Der schlaue Agypter wußte auch sehr wohl, wo er seine
Feinde zu suchen hatte; geflissentlich erschwerte er den Briten den Verkehr
mit Indien, er versperrte den wichtigen Handelsweg durch Vorderasien zum
Euphrat und Orontes, bemächtigte sich des einträglichen Kaffeehandels im
Roten Meere, begann in Syrien und Agypten Fabriken anzulegen, welche
die englische Einfuhr schädigten. Diese Handelsinteressen bestimmten Eng-
lands Haltung, ganz wie im Jahre 1830 bei der Preisgebung Hollands der
Groll über die niederländische Zoll= und Kolonialpolitik den Ausschlag ge-
geben hatte. Mit leidenschaftlichem Ungestüm suchte Palmerston die ge-
fährliche Macht des Agypters zu vernichten oder doch zu schwächen; alles
Gerede über den unaufhaltsamen Zerfall des türkischen Reichs erklärte er
kurzab für nonsense.
Schadenfroh konnte der Petersburger Hof abwarten, wie die Feind-
schaft der beiden Westmächte im Oriente sich mehr und mehr verschärfte.
Seit der Schließung der Dardanellenstraße beherrschte er das Schwarze
Meer fast unumschränkt, und da er durch den Vertrag von Hunkiar=
Iskelessi berechtigt war, seinem türkischen Schützling im Kriegsfalle Hilfe
zu leisten, so betrachtete er nicht ohne Behagen, wie der Sultan und
der Pascha sich zum Kampfe rüsteten. Mehrere Jahre hindurch standen
die türkischen und die ägyptischen Truppen an der syrischen Grenze ein-
ander gegenüber. Durch diese gewaltigen Heeresmassen wurden die armen
Länder am oberen Euphrat völlig ausgesogen und die Kraft der beiden
mohammedanischen Reiche dermaßen gelähmt, daß der in Petersburg er-
sehnte Zusammenbruch vielleicht bald eintreten konnte.
Von dem ermatteten Wiener Hofe hatten die Moskowiter wenig zu
fürchten. Dessen ganze Weisheit lief noch immer darauf hinaus, daß der
Sultan der legitime Herrscher, der Pascha ein fluchwürdiger Reformer und
*) S. o. IV. 507 ff.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 5