756 XXIX. Europäische Politik des Zaren Nikolaus.
Feind vernichteten, nebenbei die Gelegenheit zu einem kleinen Raube benutzt haben. Des
Mordes angeklagt wurde der württembergische Jude Aldinger, ein verworfener Mensch,
der sich unter dem Namen eines Barons v. Eyb in Zürich umhertrieb und zu den
eifrigsten Mitgliedern des jungen Deutschlands gehörte. Trotz starker Verdachtsgründe
konnte jedoch kein zwingender Beweis erbracht werden.
Das Erstaunl'chste bei diesen widerwärtigen Vorfällen ist aber die Tatsache, daß
die preußische Gesandtschaft in der Schweiz kein Wort von Lessings polizeilicher Tätigkeit
wußte. Am 2. Nov. 1834 übersendete Legationsrat v. Olfers aus Bern dem Aus-
wärtigen Amte eine Liste der bei den schweizerischen Umtrieben beteiligten Deutschen.
Darin stand als Nr. 9 der stud. L. Lessing, Hauptleiter der Handwerksvereine; und dazu
die unschuldige Bemerkung: „einige der Handwerker sehen ihn für einen Polizei-Spion
an.“ Nach Lessings Ermordung berichtete der Gesandte Rochow (Zürich, 6. Nov. 1835)
ganz unbefangen über die unheimliche Tat und sagte: man behaupte, der Ermordete sei
ein Preuße, die Gesandtschaft wisse aber nichts darüber, da er sich nie bei ihr gemeldet
hätte. Lessing muß also seine Berichte hinter dem Rücken der Gesandtschaft gradeswegs
nach Berlin gesendet haben, vielleicht an den bekannten Geh. Rat v. Täschoppe, dessen
Name auch in diesen Akten — allerdings nur bei Gelegenheit formaler Geschäftssachen
— mehrfach vorkommt. Auch nachher verblieb Rochow noch lange in seiner glücklichen Un-
wissenheit. Als sich herausstellte, daß Lessing ein Preuße war, und die Berliner Re-
gierung, aus guten Gründen, diesen Mord alsbald für eine politische Rachetat erklärte,
da wurde der Gesandte beauftragt, die Verfolgung des Verbrechens nachdrücklich zu be-
treiben (Schreiben der drei Minister an Ancillon, 31. Jan. 1836). Er beklagte sich bitter
über die unglaublich schlechte, fast unehrliche Untersuchung; er meinte, der Unter-
suchungsrichter bemühe sich mehr, zu erfahren, wer Lessing gewesen sei, als wer ihn er-
mordet hätte. Erst ganz zuletzt, als der Prozeß mit der bedingten Freisprechung des An-
geklagten Aldinger geendet hatte, scheint Rochow, der sonst über schweizerisches und süd-
deutsches Parteileben gut Bescheid wußte, endlich einen leisen amtlichen Wink erhalten
zu haben. Jetzt schrieb er: die radikalen Schweizer hielten den Ermordeten für einen Spion
und Agent provocateur Preußens, „indessen wird das Publikum keine Beweise gegen
Lessing, sondern nur Verdachtsgründe finden. Besondere Gründe — politische Verbin-
dungen einflußreicher Männer mit politischen Sekten“ — haben den schlechten Gang der
Untersuchung verschuldet. (Rochows Bericht, 13. Aug. 1837.) Der ganze Briefwechsel
zeigt anschaulich, daß die Regierung eines ehrenhaften Staates ihre eigenen Beamten
hintergehen muß, wenn sie das immer zweischneidige Mittel der geheimen politischen
Polizei anwendet. —
XXIX. Europäische Politik des Zaren Uikolaus.
Zu Bd. V. S. 118.
Meinem Freunde, Th. Schiemann, verdanke ich die Kenntnis des merkwürdigen
Rechenschaftsberichtes über Rußlands auswärtige Politik, welchen Graf Nesselrode zum
fünfund zwanzigsten Jahrestage der Thronbesteigung des Zaren Nikolaus erstattete. So-
eben ist zwar, wie ich höre, in der „Russkaja Starina“ eine russische Übersetzung des
Aktenstückes erschienen; da die Denkschrift jedoch in solcher Gestalt den Deutschen so gut
wie verborgen bleibt, so wird die Mitteilung des noch ganz unbekannten französischen
Originals meinen Lesern willkommen sein.
1825—1850.
Sire, Vingt-cing années viennent de s'écouler depuis due V. M. a pris en
main le timon de ’Empire.