jedermann, nicht nur die Parlamentshabituss in den Rängen
des Theatere, die zumeist zur Damenwelt Weimars gehörten,
man kannte die „G. Z. am Mittag“, die vor dem Gange zur
N#tionalversammlung allmittäglich pünktlich in der Schiller-
straße auftauchte, man kannte sämtliche Tapetenentwürfe
einer anderen jungen Dame, der Tochter aus dem hoch-
begabten Cheruskerhause, man wußte im Fürstenkeller oder
im Goldenen Adler, in dem schon Goethe saß, in dem Erb-
prinzen oder dem Elefanten, dessen Wirt einst Hermann und
Horothea nahen sah, so gut Bescheid wie in der unvergeß-
lichen Steinhöhle des Künstlervereins, diesem alten Refek-
torium mit den gebräunten hohen Säulen, dem Urväter-
hauerat, dem Riesenkamin, dem alla Campagna Romana
frisierten Vorgarten und allen seinen lieben Mitgliedern und
Gästen, die gegen 2 Uhr morgens zwar nicht die soziale
Frage zu lösen versuchten, aber sophokleische Bruchstücke oder
Annchen von Tharau deklamierten oder zum siebzehnten
Male sich die Geschichte vom Scheich der Senussi und der
Schiffstreppe erzählen ließen. Man kannte fast jede alte
Oame aus der zersprengten Hofgesellschaft Weimars, da
man jedermann jeden Tag traf, unausweichlich in der kleinen
Stadt, man unterschied schließlich sogar die einzelnen „Park-
schlangen“, die paarweis geführten Mädchenpensionate, die
an der Zlm so üppig ringeln, man wußte besser als selbst
die Weimaraner die Stellen, wo sich etwas hamstern ließ,
Himbeersaft oder Stiefel oder Kalbskeulen oder Gummi-
band, man war beimisch in jedem verträumten Patrizier-
hause, man trieb Genealogie an den vermorschten Grab-
steinen des alten Kirchhyofs. Man bedauerte nur eines. Man
bedauerte die Galeerensklaven der Politik: sich selber und
vor allem die Abgeordneten der Nationalversammlung.
Für unsere aufreibende Arbeit fanden wir Pressevertreter,
nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten überwunden waren,
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