IV. Buch. Seemacht und Kriegsflotte. 35
freiere taktische Formen überzuführen, was die mehr spstematischen Ubungen an Ergeb-
nissen geliefert hatten.
Ze mehr die Ansichten sich klärten, je mehr das gegenseitige Sichverstehen Hinder-
nisse beseitigte und Schwierigkeiten überwinden ließ, desto näher konnten die UÜbungen
sich heranschieben an die Wirklichkeit des Krieges und an die Gefahrgrenze. Auch hierin
folgten wir der in früheren ZJahren bei der Ausbildung der Torpedobootsdivisionen
gewonnenen Erfahrung. Zwar hat sich, als an die Stelle der klleinen Boote Schiffe traten,
die Millionen an Kapital repräsentieren und Hunderte von Menschen tragen, der Einsatz
vergrößert, aber die Methode blieb. Von leichteren zu schwereren, kriegsmäßigeren
Ubungen fortschreitend, wuchs das Gefühl der Sicherheit in Führern wie Geführten,
das nicht auf laienhafter, leichtsinniger Verachtung der Gefahr sich aufbaut, sondern
auf dem freudigen Gefühl, ihr gewachsen zu sein. Und hieraus allein kann schließlich
auch im Kriege die Freiheit des Entschlusses entstehen, die alles einsetzt, um alles zu ge-
winnen. Wo aber die harte Notwendigkeit des navigare necesse est Menschenleben
schon im Frieden fordert, da sind es die Sieger, die für die Zukunft in den Tod gehen.
Denn eine Flotte, die im Frieden den Einsatz scheut, der notwendig ist, um den Krieg
vorzubereiten, kann nicht Menschen erziehen, die dereinst den Sieg an ihre Flagge
fesseln sollen.
Sch bin, um ein abgeschlossenes Bild zu geben, den Dingen vorausgeeilt. Die Or-
ganisationen und die Menschen, die sie trugen, haben gewechselt, der Geist, der das
Ganze erfüllte, ist geblieben. Was das Oberkommando der Marine 1892 begann, haben
das Flottenkommando — ich nenne als langjährigen, verdienstvollen Flottenchef den
Großadmiral v. Köster — und der Admiralstab der Marine unter Leitung des Kaisers
fortgesetzt, der nach Abschaffung ersterer Behörde im Jahre 1899 beschlossen hatte,
den Oberbefehl selbst zu übernehmen.
Das Hauptergebnis der 1889 begonnenen taktischen Erprobungen aber habe ich
schon dadurch vorweg genommen, daß ich von artilleristischer Linientaktik sprach. Unsere
Ubungen ließen nämlich immer klarer erkennen, daß eine Flotte, die, wie man es 1888
plante, darauf ausging, im direkten Vorschreiten möglichst schnell zum Durchbruchsge-
fecht oder gar zur Lösung der Ordnung im Nahkampf zu kommen, doch großer Gefahr
entgegenging. Dies setzte allerdings voraus, daß ihr Gegner sich dessen bewußt war,
welche wichtige Waffe er in der ferntragenden Artillerie besaß. Ze mehr aber beide
Flotten dies erkannten, je mehr sie darauf ausgingen, die Artillerie, die durch Verken-
nung ihrer eigentlichen Bestimmung zur Nahwaffe herabgesunken war, wieder zur
Fernwaffe zu entwickeln, desto mehr löste sich ihr Gefechtsfeld von dem des Torpedos
und der ausgesprochensten Nahwaffe, des Sporns. Nun mußte, wer den Feind am wirk-
samsten bekämpfen wollte, ihm nicht mehr mit nebeneinander gestellten Schiffen und
Schiffsabteilungen den Bug zudrehen, sondern die die Artilleriekraft erst zu voller
Seltung bringende Breitseite. Die fechtenden Flotten fuhren in Kiellinie (d. h. mit
bintereinander gestellten Schiffen) im „laufenden Gefecht" nebeneinander her. Richt mehr
Lösung der Ordnung, sondern Innehaltung der Linienformation wurde wieder wie in der
alten Zeit zum Kampfprinzip, und sein Träger ist das moderne Linienschiff geworden.
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