Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

$ 39 | Das Begnadigungsrecht. 353 
  
falle ist unzulässig. Der Sachverständige hat nicht nur auf Entschädigung 
für Zeitversäumnis und auf Erstattung der ihm verursachten Kosten, son- 
dern ausserdem auf angemessene Vergütung für seine Mühewaltung An- 
spruch. Die näheren Vorschriften hierüber enthält das Ges. v. 30. Juni 1878. 
$ 39. Das Begnadigungsrecht!). 1. Die staatsrechtlicheNa- 
tur. Die Begnadigung ist ein Eingriff der Staatsgewalt in die Rechtspflege 
zugunsten eines Verurteilten oder eines der Strafverfolgung Ausgesetzten. 
Begnadigung i. e. S. ist der gänzliche oder teilweise Erlass oder die Milde- 
rung einer rechtskräftig zuerkannten Strafe; Niederschlagung (Abolition, 
Amnestie) ist die Befreiung jemandes von einer Strafverfolgung, der er von 
Rechts wegen ausgesetzt ist. Die Begnadigung ist kein Akt der Gesetzge- 
bung, keine lex specialis; sie stellt keine Rechtsregel für einen einzelnen Fall 
auf; sie setzt ebensowenig einen Rechtssatz für einen einzelnen Fall ausser 
Kraft; sie lässt die bestehenden Rechtsregeln vollkommen unberührt und be- 
seitigt nur eine einzelne Konsequenz; der Begnadigungsakt ergeht daher 
regelmässig auch nicht in der Form des Gesetzes. Die Begnadigung ist auch 
nicht ein Akt der Rechtsprechung; weder formell im Sinne der Lehre von 
der Gewaltenteilung, denn sie gehört nicht zur Zuständigkeit der Gerichte, 
noch materiell, denn sie enthält keine Entscheidung eines Rechtsstreites und 
die Gründe, aus denen sie gewährt wird, brauchen keine Rechtsgründe zu 
sein. Sie ist vielmehr ein Verwaltungsakt; ein Befehl, der eine 
Unterlassung zum Inhalt hat. Der Gnadenakt ist ein ausserordent- 
licher, im Verfassungsrecht zwar zugelassener, aber im Prozessrecht nicht 
geregelter Verwaltungsakt; er steht ausserhalb der durch das Gesetz gegebe- 
nen Ordnung des Strafverfahrens.. Während alle anderen Verwaltungsbe- 
fehle entweder auf gesetzlichen Geboten oder Ermächtigungen beruhen oder 
wenigstens an den Gesetzen rechtliche Schranken haben, ist der Gnadenakt 
ein Befehl, der die gesetzlichen Schranken sprengt und den Urteilsbefehl des 
Gerichts seiner Wirkung beraubt; die Aeusserung eines jus eminens des Staa- 
tes, ein Veto gegen den Lauf von Gesetz und Recht. Deshalb geht die Be- 
gnadigung aus dem Zentralpunkt der staatlichen Gewalt hervor und steht im 
Gegensatz zu den gesetzlichen Ermächtigungen der Behörden. Die Begna- 
digung ist demnach eine selbständige, von der Rechtspflege verschiedene, 
auf eigenem Grunde beruhende Funktion des Staates, welche durch die 
Straf- und Prozessgesetze nicht gebunden ist. Hieraus ergibt sich, dass das 
Begnadigungsrecht der Einzelstaaten auch durch den Erlass des Reichs- 
strafgesetzbuches und der StrafprozOrdnung nicht beseitigt worden ist 2). 
2. Das BegnadigungsrechtdesKaisers. In der Reichs- 
verf. ist ein solches Recht nicht erwähnt; es besteht aber auf Grund spezieller 
Gesetze hinsichtlich der Strafurteile der Marinekriegsgerichte und Bord- 
standgerichte °); ferner in Strafsachen, in denen das Reichsgericht in erster 
1) Vgl. mein Staatsr. des D. R. III S. 482 ff. 
2) Aus diesem Grunde ist auch die Abolition, wo sie landesgesetzlich bestanden hat, 
«lurch die Strafprozessordnung unberührt geblieben. Siehe daselbst S. 488 fg. 
3) Dagegen steht das Begnadigungsrecht in Militärstrafsachen nicht dem Kaiser, 
sondern dem Kontingentsherrn zu (siehe unten 8. 364). 
ILaband, Reichsstautsrecht. 6. Aufl. 23
	        
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