Full text: Reichs-Gesetzblatt. 1876. (10)

§. 58. 
Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniß der Strafbarkeit einer von 
ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besaß, ist freizusprechen. 
§. 59. 
Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhanden- 
sein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande ge- 
hören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. 
Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestim- 
mung nur insoweit, als die Unkenntniß selbst nicht durch Fahrlässigkeit ver- 
schuldet ist. §. 60. 
Eine erlittene Untersuchungshaft kann bei Fällung des Urtheils auf die 
erkannte Strafe ganz oder theilweise angerechnet werden. 
§. 61. 
Eine Handlung, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, ist nicht zu 
verfolgen, wenn der zum Antrage Berechtigte es unterläßt, den Antrag binnen 
drei Monaten zu stellen. Diese Frist beginnt mit dem Tage, seit welchem der 
zum Antrage Berechtigte von der Handlung und von der Person des Thäters 
Kenntniß gehabt hat. 
§. 62. 
Wenn von mehreren zum Antrage Berechtigten einer die dreimonatliche 
Frist versäumt, so wird hierdurch das Recht der übrigen nicht ausgeschlossen. 
§. 63. 
Der Antrag kann nicht getheilt werden. Das gerichtliche Verfahren findet 
gegen sämmtliche an der Handlung Betheiligte (Thäter und Theilnehmer), sowie 
gegen den Begünstiger statt, auch wenn nur gegen eine dieser Personen auf 
Bestrafung angetragen worden ist. 
§. 64. 
Die Zurücknahme des Antrages ist nur in den gesetzlich besonders vor- 
gesehenen Fällen und nur bis zur Verkündung eines auf Strafe lautenden 
Urtheils zulässig. 
Die rechtzeitige Zurücknahme des Antrages gegen eine der vorbezeichneten 
Personen hat die Einstellung des Verfahrens auch gegen die anderen zur Folge. 
§. 65. 
Der Verletzte, welcher das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist 
selbständig zu dem Antrage auf Bestrafung berechtigt. 
So lange der Verletzte minderjährig ist, hat der gesetzliche Vertreter 
desselben, unabhängig von der eigenen Befugniß des Verletzten, das Recht, den 
Antrag zu stellen. 
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