300 I. 3. Preußens Erhebung.
war das Reich dahin, die Deutschen waren kein Volk mehr, nur noch
Sprachgenossen. Wie bald konnte auch dies letzte Band zerreißen, da
das linke Rheinufer für immer der wälschen Gesittung verfallen schien
und im Königreich Westphalen die französische Amtssprache bis zur Elbe
hin herrschte; unsere Fürsten aber, die vielgeliebten, heißbewunderten,
trugen die Ketten des Fremdlings, sie alle bis auf zwei! Und mitten im
Niedergange ihres alten Volksthums blieb den Deutschen noch das stolze
Gefühl, daß die Welt ihrer nicht entbehren könne, daß sie eben jetzt, durch
ihre Dichter und Denker, für die Menschheit mehr gethan als jemals
ihre Besieger. Aus dem Jammer der Gegenwart flüchtete die Sehnsucht
in die fernen Zeiten deutscher Größe; das Kaiserthum, vor Kurzem noch
ein Kinderspott, erschien jetzt wieder als ein Ruhm der Nation. In allen
den aufgeregten Briefen, Reden und Schriften dieser bedrängten Tage
klingen die beiden bitteren Fragen wieder: warum sind die Deutschen als
Einzelne so groß, als Nation so gar nichts? warum sind die einst der
Welt Gesetze gaben den Fremden unter die Füße geworfen?
Die Dichter und Gelehrten waren gewohnt, vor einem idealen Deutsch—
and zu reden, über die Grenzen der Länder und Ländchen hinweg an alle
Söhne deutschen Blutes sich zu wenden. Nun da die Literatur mit politischer
Leidenschaft sich erfüllte, übertrug sie diese Anschauungen kurzerhand auf
den Staat. Fichte richtete seine politischen Ermahnungen als Deutscher
schlechtweg an Deutsche schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus
bei Seite setzend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige
Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Die
Deutschheit, die echte alte unverstümmelte deutsche Art sollte wieder zu
Ehren kommen. Eine hochherzige Schwärmerei pries in überschwänglicher
Begeisterung den angeborenen Adel deutschen Wesens, denn nur durch
die Ueberhebung konnte ein so unpolitisches Geschlecht wieder zur rechten
Schätzung des Heimathlichen, zum nationalen Selbstgefühle gelangen. An
die Stelle der alten leidsamen Ergebung trat ein verwegener Radicalis-
mus, der alle die Gebilde unserer neuen Geschichte als Werke des Zu-
falls und des Frevels verachtete: was blieb denn noch ehrwürdig und der
Schonung werth in diesem rheinbündischen Deutschland? Waren nur erst
die fremden Tyrannen gestürzt, ihre freiwilligen Sklaven gezüchtigt und
die widerwilligen befreit, so sollte ein neues mächtiges Deutschland, glänzend
im Schmucke heller Gedanken und ruhmreicher Waffen, sich politisch gestalten
— gleichviel in welchen Formen, aber einig und aus dem ureigenen Geiste
der Nation heraus — und dann mußten die Deutschen, ließ man sie nur
frei gewähren, auch in Kunst und Wissenschaft die reichsten Kränze, die
je ein hellenisches Haupt geschmückt, sich auf die Siegerstirne drücken.
Von dem einen Gewaltigen, der unserer Nation schon einmal den Weg
zur politischen Macht gewiesen, sprach man ungern. Was dies neue Ge-
schlecht brauchte war scheinbar das Gegentheil der fridericianischen Gedanken;