Lutheraner und Reformierte. 239
Auch für das innere Leben der deutschen protestantischen Kirche wurden
diese Friedensjahre eine Zeit der Verjüngung und Erneuerung, wesent—
lich durch das Verdienst der preußischen Krone. Der König erkannte,
gleich seinem russischen Freunde, in den Siegen der letzten Jahre die
Hand des lebendigen Gottes, ihm wollte er sich beugen; aber während
Zar Alexanders phantastischer Sinn durch die andächtige Stimmung der
Kriegszeit zu dem anspruchsvollen und doch leeren Plane der Heiligen
Allianz begeistert wurde, ging der nüchterne Friedrich Wilhelm an ein
unscheinbares und doch weit fruchtbareres Werk: er entschloß sich, die reife
Frucht einer zweihundertjährigen friedlichen Gedankenarbeit endlich zu
brechen, den frommen Lieblingsgedanken seiner Ahnen, die Union der evan—
gelischen Kirchen Deutschlands zu verwirklichen. Der alte unselige Haß
der beiden Schwesternkirchen des Protestantismus, der einst die Siege der
Gegenreformation, die große Verwüstung des dreißigjährigen Krieges so
mächtig gefördert hatte, erschien dem neuen Geschlechte schon längst fremd,
fast unbegreiflich. Im bürgerlichen Leben ward der Gegensatz kaum noch
bemerkt; die Mischehen zwischen Lutheranern und Reformierten, die noch
in den Tagen des Thomasius so viele Stürme theologischer Entrüstung
hervorgerufen, galten jetzt selbst in den Pfarrerfamilien für unbedenklich.
Die Rationalisten meinten allem Dogmenstreite entwachsen zu sein; die
Ausläufer des Pietismus betrachteten die ewige Liebe als den großen
Mittelpunkt des christlichen Glaubens, wie es einst der junge Goethe in
dem rührenden „Briefe eines Landgeistlichen“ ausgesprochen hatte; auch
in den Kreisen der strengen Bibelgläubigen ward oft die Frage laut, ob
der Protestantismus nicht wieder zurückkehren könne zu jener ungebroche—
nen Einheit, die in den Jugendtagen der Reformation sein Glück und
sein Stolz gewesen war. Neuerdings, schon seit dem Jahre 1802, war
Schleiermacher als der wissenschaftliche Wortführer der Union aufgetreten.
Was den freiesten Köpfen des siebzehnten Jahrhunderts, Calixt und Pufen—
dorf, Spener und Leibniz noch halb verhüllt geblieben, war dem Jünger
der neuen Philosophie geläufig; er wußte, daß alles Wissen von der über—
sinnlichen Welt nur annäherndes Erkennen ist und mithin verschiedene
Annäherungsversuche im Frieden neben einander bestehen können falls sie
nur den Boden der evangelischen Freiheit nicht verlassen. Die reformierte
Kirche, der er angehörte, suchte das Wesen des Christentums in der sitt—
lichen Gestaltung des Lebens und war darum dem Gedanken der „Ein—
heit des evangelischen Namens“ von jeher zugänglicher gewesen als der
gemütvolle dogmatische Tiefsinn des Luthertums.
In Preußen hatte die Kirchenpolitik des Herrscherhauses seit langem
bedachtsam die Wiedervereinigung vorbereitet. Die Hohenzollern rechneten
sich auch nach Johann Sigismunds Ubertritt immer zu den Augsburgi-
schen Konfessionsverwandten und gaben das Kirchenregiment über die
lutherische Landeskirche nicht aus der Hand; blieb doch auch das Corpus