Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Schleiermacher. 89 
Um seine Kanzel versammelte sich noch immer die beste Gesellschaft Ber— 
lins, aber auch die Armen im Geist erbaute seine herzliche Rede; wie unver— 
geßlich ehrwürdig erschien er allen, da er vor dem Sarge seines Söhn— 
leins Nathanael selber die Leichenrede hielt, so ganz in Schmerz verloren 
um das Stück eigenen Lebens, das vor ihm lag, und doch so stark in 
dem Troste, der allein tröstet. Wer seine tiefgemütlichen Briefe an den 
wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im persönlichen Verkehre 
mit den zahlreichen Freunden so liebevoll auf die Eigenart eines jeden 
eingehen sah, der mochte leicht glauben, diese empfängliche Natur verlange 
nur sich hinzugeben in innigem Gedankenaustausch; und doch konnte 
Schleiermacher nur im öffentlichen Leben sich ganz genug tun, seine 
Staatsgesinnung blieb in den Tagen der politischen Ermattung ebenso 
lebendig wie einst in den Zeiten des patriotischen Zornes. Die Unkundigen 
und die Gegner schalten, er schillere in allen Farben, und doch stand er 
mit einem besonnenen Freimut immer ruhig auf dem Plane, sobald 
er ein heiliges Gut seines Volkes bedroht sah, ein stahlharter, ganz mit 
sich einiger Charakter. 
Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte sich nahe 
mit den Ideen der neuen historischen Wissenschaft. War die Wurzel der 
Religion im Gemüte zu suchen, so ergab sich von selbst der Schluß, 
daß die Außerungen des Gottesbewußtseins verschieden sein müssen. Die 
Dogmen erschienen demnach als subjektive Gemütswahrheiten, als Aus— 
sagen des frommen Gefühls über seine Vorstellungen von Gott. Der 
Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, diese Gestaltungen des christ— 
lichen Gefühls in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit zu begreifen. Sie 
sollte nicht mehr in gehässiger Polemik die einzelnen Bekenntnisse des 
Christentums bekämpfen und verdammen, sondern sie alle als höhere 
oder niedere Formen des christlichen Selbstbewußtseins zu verstehen suchen; 
denn auch Schleiermacher hatte sich in seiner Weise, unabhängig von 
Schelling und Savigny, die Erkenntnis der historischen Entwicklung er— 
worben und unterschied scharf zwischen dem was durch die menschliche 
Natur werde und dem was der Mensch mache. 
Damit vollführte er auf dem theologischen Gebiete eine ähnliche Grenz- 
berichtigung, wie einst Kant im Bereiche der Philosophie; er sicherte der 
Theologie einen Boden, auf dem sie ebenso unzweifelhafte wissenschaftliche 
Ergebnisse gewinnen konnte wie alle anderen historischen Fächer. Die Frei— 
heit des Christenmenschen faßte er ganz so weitherzig auf wie einst Luther 
in seinen ersten Schriften: das lebendige Gottesbewußtsein hatte von der 
freien historischen und philosophischen Forschung nichts zu fürchten. Die 
christliche Gesinnung war ihm nichts anderes als die Menschlichkeit in 
ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des 
Menschen in Streit geraten. Doch ebenso nachdrücklich hob er die Wahr— 
heit hervor, daß alle Religion positiv ist, und das fromme Abhängigkeits-
	        
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