Schleiermacher. 89
Um seine Kanzel versammelte sich noch immer die beste Gesellschaft Ber—
lins, aber auch die Armen im Geist erbaute seine herzliche Rede; wie unver—
geßlich ehrwürdig erschien er allen, da er vor dem Sarge seines Söhn—
leins Nathanael selber die Leichenrede hielt, so ganz in Schmerz verloren
um das Stück eigenen Lebens, das vor ihm lag, und doch so stark in
dem Troste, der allein tröstet. Wer seine tiefgemütlichen Briefe an den
wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im persönlichen Verkehre
mit den zahlreichen Freunden so liebevoll auf die Eigenart eines jeden
eingehen sah, der mochte leicht glauben, diese empfängliche Natur verlange
nur sich hinzugeben in innigem Gedankenaustausch; und doch konnte
Schleiermacher nur im öffentlichen Leben sich ganz genug tun, seine
Staatsgesinnung blieb in den Tagen der politischen Ermattung ebenso
lebendig wie einst in den Zeiten des patriotischen Zornes. Die Unkundigen
und die Gegner schalten, er schillere in allen Farben, und doch stand er
mit einem besonnenen Freimut immer ruhig auf dem Plane, sobald
er ein heiliges Gut seines Volkes bedroht sah, ein stahlharter, ganz mit
sich einiger Charakter.
Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte sich nahe
mit den Ideen der neuen historischen Wissenschaft. War die Wurzel der
Religion im Gemüte zu suchen, so ergab sich von selbst der Schluß,
daß die Außerungen des Gottesbewußtseins verschieden sein müssen. Die
Dogmen erschienen demnach als subjektive Gemütswahrheiten, als Aus—
sagen des frommen Gefühls über seine Vorstellungen von Gott. Der
Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, diese Gestaltungen des christ—
lichen Gefühls in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit zu begreifen. Sie
sollte nicht mehr in gehässiger Polemik die einzelnen Bekenntnisse des
Christentums bekämpfen und verdammen, sondern sie alle als höhere
oder niedere Formen des christlichen Selbstbewußtseins zu verstehen suchen;
denn auch Schleiermacher hatte sich in seiner Weise, unabhängig von
Schelling und Savigny, die Erkenntnis der historischen Entwicklung er—
worben und unterschied scharf zwischen dem was durch die menschliche
Natur werde und dem was der Mensch mache.
Damit vollführte er auf dem theologischen Gebiete eine ähnliche Grenz-
berichtigung, wie einst Kant im Bereiche der Philosophie; er sicherte der
Theologie einen Boden, auf dem sie ebenso unzweifelhafte wissenschaftliche
Ergebnisse gewinnen konnte wie alle anderen historischen Fächer. Die Frei—
heit des Christenmenschen faßte er ganz so weitherzig auf wie einst Luther
in seinen ersten Schriften: das lebendige Gottesbewußtsein hatte von der
freien historischen und philosophischen Forschung nichts zu fürchten. Die
christliche Gesinnung war ihm nichts anderes als die Menschlichkeit in
ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des
Menschen in Streit geraten. Doch ebenso nachdrücklich hob er die Wahr—
heit hervor, daß alle Religion positiv ist, und das fromme Abhängigkeits-