Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

402 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
Verkehre jedem ernstlich gebildeten deutschen Maler in Fleisch und Blut 
gedrungen sein mußte und nunmehr eine ganz selbständige nordische Kunst 
möglich war. 
Unterdessen bewies ein bescheidener, lange kaum beachteter Meister, 
daß auch in dieser bildungsstolzen Zeit die volkstümliche Kunst mit ein- 
fachen Mitteln große Erfolge erringen konnte. Ludwig Richter war in 
dem stillvergnügten Philistertum einer armen Vorstadt Dresdens auf- 
gewachsen, in einer Welt von kleinbürgerlichen Originalen; die engen Ver- 
hältnisse bedrückten den kindlich frommen, genügsamen Jüngling wenig; 
war doch die Natur so reich und mild im heiteren Tale der Elbe, und wie 
wonnig ließ es sich träumen unter den Zweigen des alten Birnbaums im 
Garten, vor den üppigen Rosenbeeten. Nachher zu Rom schloß er Freund- 
schaft mit Koch und seinem Landsmanne Schnorr und versuchte sich in 
dieser strengen Schule an dem hohen Stile historischer Landschaften; 
als er aber dort einmal gedrängt wurde, rasch aus dem Kopfe ein Bild 
zu entwerfen, da zeichnete er unwillkürlich eine Schar sächsischer Land- 
leute, die mit ihren Kindern am Sonntag durchs hohe Korn zur Kirche 
zogen. Es war die Stimme des Herzens, die Ahnung seines Lebens- 
berufes. 6 
Als er dann wieder daheim im bescheidenen glücklichen Hause saß, 
da fühlte er bald, daß ihm das schlichte Bürgerkind, die deutsche Land- 
schaft doch viel traulicher zum Gemüte redete als die stolze Königs- 
tochter des Südens, und er begriff, warum der Welsche im Walde auf 
dem Bauche liegt, der Deutsche auf dem Rücken. Die Heimat mit ihrem 
Kleinleben ward ihm immer lieber, und er begann nunmehr für den 
Holzschnitt zu zeichnen — eine echt deutsche Kunstweise, die einst in 
Dürers Tagen weit tiefer als die Malerei auf unser Volk eingewirkt hatte, 
dann lange ganz vergessen und endlich in England zuerst wiederbelebt, 
neuerdings auch in Deutschland wieder tüchtige Vertreter fand. Naiv, 
wie er immer blieb, wendete er sich also von der großen zur kleinen Kunst, 
vom Erhabenen zum Schlichten, ohne sich's träumen zu lassen, daß diese 
Wendung doch durch die veränderte Zeitstimmung mitbedingt war. Ihm 
war die Kunst „ein wunderschöner Engel, der die Menschen, die eines 
guten Herzens sind, auf sonnige und blumige Stellen führt“, und mit 
seliger Freude schilderte er nun auf unzähligen Blättern das Treiben seines 
Volks: Studenten und Handwerksburschen, das Lebkuchenhäuschen des 
Volksmärchens und die frierenden Kinder, die auf dem Dresdener Striezel- 
markte ihre aus Backpflaumen geformten Schornsteinfeger verkaufen, vor 
allem doch das Glück des Hauses: den Weihnachtsbaum, die Punschbowle 
des Silvesterabends und die dampfende Kartoffelschüssel — was jeder 
kennt und jeder erlebt hat. 
Überall Glück und Frieden, auch ein Zug von jenem warmherzigen 
Spenerschen Pietismus, der unter den Stillen im kursächsischen Lande
	        
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