500 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
soeben erst vollendeten neuen Steinstraße täglich vier bis sechs Personen
in dreizehn Stunden, und die schlichten Leute fragten ganz verwundert:
was man denn noch mehr verlangen könne? — als in beiden Städten
Vereine zur Begründung einer Eisenbahn zusammentraten. Der Plan
schien anfangs fast aussichtslos; die Unternehmer baten sogar den Zaren
Nikolaus, als dieser durch Holstein kam, um die Zeichnung einiger Aktien,
damit das Werk durch den Zauber seines mächtigen Namens gefördert
würde. Im Auftrage der Stadt Kiel ging dann Franz Hegewisch (1842)
nach Kopenhagen und er behandelte seinen Gönner, den gescheiten, eitlen
König Christian VIII. mit ärztlicher Klugheit; er legte ihm genaue Rech-
nungen vor und dazu den Antrag, daß die Bahn den Namen „König
Christian VIII. Ostseebahn“ führen solle. * Eine solche Lockung wirkte
in Kopenhagen ebenso unwiderstehlich wie in Kassel. Die Bahn wurde
genehmigt und schon nach zwei Jahren dem Verkehr übergeben. Freilich
ahnte der König nicht, was sich seine treuen Holsten bei dem Unternehmen
dachten; er zeigte sich sehr aufgebracht, als Hegewisch bald nachher auf
dem Kieler ärztetage furchtlos sagte, dieser Schienenweg solle das un-
geteilte Schleswig-Holstein fest mit dem deutschen Vaterlande verbinden.
Um so mehr war er darauf bedacht, Lübeck niederzuhalten, die alte Feindin
Dänemarks, die jetzt auch mit dem aufstrebenden Kiel einen scharfen Kon-
kurrenzkampf führte. Weder eine Hamburg-Lübecker Bahn, noch eine
Zweigbahn zum Anschluß an die Berlin-Hamburger Linie wollte er der
verhaßten Stadt erlauben, und da auch Mecklenburg, ängstlich besorgt um
seine eigenen Seeplätze Wismar und Rostock, einen Schienenweg nach
Schwerin nicht gestattete, so blieb Lübeck, allein unter den Hansestädten,
noch viele Jahre lang ohne Eisenbahnverbindung.
Bald fühlten die Verwaltungen selbst, daß die naturwüchsige Anarchie
dieser kleinen Linien doch einiger Ordnung bedurfte; es entstanden vier
große Eisenbahnverbände: eine norddeutsche Gruppe mit Berlin, eine nieder-
rheinische mit Köln, eine südwestliche mit Frankfurt, eine bayrische mit
Augsburg als Mittelpunkt. Die Verbände verständigten sich über einige ge-
meinsame Betriebsgrundsätze, vornehmlich über die Warenbeförderung;
denn man begann jetzt schon zu begreifen, daß der Güterverkehr mehr be-
deutete als der Personenverkehr, und die Tarifsätze der Eisenbahnen für
viele Gewerbszweige wichtiger waren als die Schutzzölle. Trotz so mancher
Mißgriffe und Torheiten blieb es doch ein erhebendes Schauspiel, wie
tapfer dies Land ohne Hauptstadt dem zentralisierten, reicheren Frankreich
vorausschritt. Was auch die Welschen prahlen mochten, die Sonne ging
über Europa noch immer nicht im Westen auf. Im Volke regte sich zwar
da und dort ein Widerstand. Viele bayrische Städtchen baten ihren König
*) Hegewisch, Entwurf eines königl. Patents über die König Christian VIII. Ost-
seebahn. März 1842.