Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

64 V. 2. Die Kriegsgefahr. 
Gleichgewicht der Mächte herzustellen, das auf dem Festlande längst be— 
stand, jenes heilsame Gleichgewicht, das keinem Staate ermöglichte, sich 
alles zu erlauben, und darum jedem ein menschliches Völkerrecht sicherte. 
Die Gesittung des Menschengeschlechts forderte, daß die vielgestaltige Herr— 
lichkeit der Weltgeschichte, die einst mit der Herrschaft der monosyllabischen 
Chinesen begonnen hatte, nicht in einem trostlosen Kreislaufe mit dem 
Reiche der monosyllabischen Briten endigen durfte. Sobald die orienta- 
lische Frage wieder in Fluß geriet, mußte eine weitschauende Staats- 
kunst danach trachten, die erdrückende Fremdherrschaft, welche Englands 
Flotten von Gibraltar, Malta, Korfu aus aufrecht hielten, zum mindesten 
einzuschränken, das Mittelmeer den mediterranischen Völkern zurückzugeben. 
Der preußische Staat aber besaß noch keine Flotte; er konnte und durfte sich 
zu einer so freien Anschauung jener weit entlegenen Händel nicht er- 
heben, solange er selbst die zerfahrene deutsche Welt kaum notdürftig 
zu schützen vermochte und eine italienische Großmacht noch nicht bestand. 
Der Friede zwischen Agypten und der Pforte wurde nach orienta- 
lischem Herkommen von beiden Seiten unredlich gehalten. Sultan Mach- 
mud dürstete nach Rache an dem meuterischen Vasallen, und der englische 
Gesandte, der rücksichtslose alte Heißsporn Lord Ponsonby bestärkte ihn in 
seinem Hasse, desgleichen dessen Legationssekretär Urquhart, der fanatische 
Türkenschwärmer. Mehemed Ali aber war durch das Kriegsglück ver- 
wöhnt und schaltete in seinen neu errungenen Paschaliks wie ein unab- 
hängiger Fürst. Er gewann die Freundschaft des Tuilerienhofes, der schon 
um Algeriens willen sich der ägyptischen Flotte versichern wollte, und die 
begeisterte Verehrung der Franzosen. Wundersame Märchen erzählten den 
Parisern von der genialen Herrscherkraft dieses Napoleons des Ostens, 
der als echter Orientale französische Sitte und Sprache überall bevorzugte; 
und bald galt es in Frankreich als ein politischer Glaubenssatz, daß nur 
Mehemed Ali in dem erstarrten Oriente ein neues Leben erwecken könne. 
In Deutschland war Fürst Pückler-Muskau des Paschas wärmster Bewun- 
derer. Der erregte allgemeines Aufsehen, als er von der Nilfahrt und 
den Wüstenritten heimgekehrt, im Fes auf arabischem Rosse durch die 
Straßen Wiens zog; bei Kaiser Ferdinand ward er erst vorgelassen, nach- 
dem er dem preußischen Gesandten versprochen hatte, diesen traurigen 
Hos, der allerdings einc naturgetreue Schilderung kaum vertrug, in seinen 
Reisebüchern nicht zu erwähnen.) Überall, in Wort und Schrift, ver- 
kündcte Semilasso den Ruhm des großen Agypters. 
In Wahrheit stand Mehemed Alis Macht bei weitem nicht mehr 
so sest wie zur Zeit des letzten Krieges. Die ungebändigten Völker Sy- 
riens ertrugen den Druck des aufgeklärten Despotismus schwerer als die 
leidsamen Fellahs am Nil; ein Aufstand schien nicht aussichtslos, und 
  
*) Maltzans Berichte, Jan. 1840.
	        
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