64 V. 2. Die Kriegsgefahr.
Gleichgewicht der Mächte herzustellen, das auf dem Festlande längst be—
stand, jenes heilsame Gleichgewicht, das keinem Staate ermöglichte, sich
alles zu erlauben, und darum jedem ein menschliches Völkerrecht sicherte.
Die Gesittung des Menschengeschlechts forderte, daß die vielgestaltige Herr—
lichkeit der Weltgeschichte, die einst mit der Herrschaft der monosyllabischen
Chinesen begonnen hatte, nicht in einem trostlosen Kreislaufe mit dem
Reiche der monosyllabischen Briten endigen durfte. Sobald die orienta-
lische Frage wieder in Fluß geriet, mußte eine weitschauende Staats-
kunst danach trachten, die erdrückende Fremdherrschaft, welche Englands
Flotten von Gibraltar, Malta, Korfu aus aufrecht hielten, zum mindesten
einzuschränken, das Mittelmeer den mediterranischen Völkern zurückzugeben.
Der preußische Staat aber besaß noch keine Flotte; er konnte und durfte sich
zu einer so freien Anschauung jener weit entlegenen Händel nicht er-
heben, solange er selbst die zerfahrene deutsche Welt kaum notdürftig
zu schützen vermochte und eine italienische Großmacht noch nicht bestand.
Der Friede zwischen Agypten und der Pforte wurde nach orienta-
lischem Herkommen von beiden Seiten unredlich gehalten. Sultan Mach-
mud dürstete nach Rache an dem meuterischen Vasallen, und der englische
Gesandte, der rücksichtslose alte Heißsporn Lord Ponsonby bestärkte ihn in
seinem Hasse, desgleichen dessen Legationssekretär Urquhart, der fanatische
Türkenschwärmer. Mehemed Ali aber war durch das Kriegsglück ver-
wöhnt und schaltete in seinen neu errungenen Paschaliks wie ein unab-
hängiger Fürst. Er gewann die Freundschaft des Tuilerienhofes, der schon
um Algeriens willen sich der ägyptischen Flotte versichern wollte, und die
begeisterte Verehrung der Franzosen. Wundersame Märchen erzählten den
Parisern von der genialen Herrscherkraft dieses Napoleons des Ostens,
der als echter Orientale französische Sitte und Sprache überall bevorzugte;
und bald galt es in Frankreich als ein politischer Glaubenssatz, daß nur
Mehemed Ali in dem erstarrten Oriente ein neues Leben erwecken könne.
In Deutschland war Fürst Pückler-Muskau des Paschas wärmster Bewun-
derer. Der erregte allgemeines Aufsehen, als er von der Nilfahrt und
den Wüstenritten heimgekehrt, im Fes auf arabischem Rosse durch die
Straßen Wiens zog; bei Kaiser Ferdinand ward er erst vorgelassen, nach-
dem er dem preußischen Gesandten versprochen hatte, diesen traurigen
Hos, der allerdings einc naturgetreue Schilderung kaum vertrug, in seinen
Reisebüchern nicht zu erwähnen.) Überall, in Wort und Schrift, ver-
kündcte Semilasso den Ruhm des großen Agypters.
In Wahrheit stand Mehemed Alis Macht bei weitem nicht mehr
so sest wie zur Zeit des letzten Krieges. Die ungebändigten Völker Sy-
riens ertrugen den Druck des aufgeklärten Despotismus schwerer als die
leidsamen Fellahs am Nil; ein Aufstand schien nicht aussichtslos, und
*) Maltzans Berichte, Jan. 1840.