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Um zu erkennen, welche Ausdehnung diese gewaltsamen Ver-
änderungen auch in verhältnißmäßig civilisirten und friedlichen Zu-
ständen haben, brauchen wir nur einen Blick auf die Geschichte
Europa's während der letzten 50 Jahre zu werfen. Wenn wir die
Souverainitätsverhältnisse, wie sie durch die Wiener Congreßakte
geordnet waren oder von derselben unberührt zu Ende des Jahres
1815 bestanden, als legitim voraussetzen, so treten uns, falls wir
auch absehen von rein provisorischen oder niemals in völlige Wirk-
samkeit getretenen Gestaltungen ½), folgende seitdem vollzogene und
größtentheils noch fortbestehende Usurpationen einer Staatsgewalt
entgegen. Drei neue Staaten, die Königreiche Griechenland, Belgien
und Italien sind auf gewaltsamem Wege entstanden: in Folge da-
von haben die Pforte, das Königreich der Niederlande und der
Kirchenstaat einen Theil ihres bisherigen Gebietes eingebüßt, wäh-
rend das Königreich beider Sicilien, das Großherzogthum Toscana,
die Herzogthümer Modena und Parma vollkommen aufgehört haben
zu existiren. In allen drei Staaten ist auch die Berufung des
Trägers der Staatsgewalt auf eine nach unserer Ansicht ursprüng-
lich nicht rechtmäßige Weise erfolgt; in Griechenland hat zudem
später ein gewaltsamer Wechsel der Dynastie stattgefunden. In
der Schweiz hat sich ein neuer Canton, Baselland, durch gewalt-
same Losreißung von der Stadt Basel gebidet. Das Königreich
Polen hat seine selbstständige staatliche Existenz durch einen Macht-
befehl des Kaisers von Rußland verloren. Die Republik Krakan
ist widerrechtlicher Weise in das Kaiserthum Oesterreich inkorporirt
worden. In Frankreich ist zuerst die ältere Bourbonenlinie vertrie-
ben worden, dann auch die an ihre Stelle getretene Orleans'sche
Linie; die aus der Revolution von 1848 hervorgegangene Republik
ist abermals in widerrechtlicher Weise beseitigt und ein Kaiserthum
unter der Napoleonischen Dynastie gegründet worden. In Portugal
hat der Usurpator Dom Miguel vier Jahre lang ungestört ge-
derts die Empörung aus Princip der treibende Gedanke, daß sie „Revolution im
absoluten Sinne" sei, entschieden zurückzuweisen. Die Umwälzungen seit der ersten
französischen Revolution sind fast alle aus dem Bedürfniß, eine den modernen
socialen Zuständen und vernünftigen Ueberzeugungen entsprechende Staatseinrich-
tung zu schaffen, hervorgegangen; wenn dieselben auch vielfach noch nicht zum
ersehnten Ziele geführt haben, so waren sie doch ihrer Richtung nach nicht allein
zerstörend, sondern auch aufbauend.
16) Auch die Veränderungen in den Vasallenstaaten der Pforte lassen wir
außer Augen.