CAPRIVIS POLENKURS 503
Ansiedlungsgesetz von 1886 den Kampf um den Boden im großen Stil
begann. Das Ansiedlungswerk war und blieb das Kernstück der preußischen
Ostmarkenpolitik, denn es siedelte deutsche Menschen in den östlichen
Gebieten an. Wieder erfolgte ein neuer Rückschlag nach dem Sturz des
Fürsten Bismarck. Graf Caprivi hätte gerade bei Beginn seiner Amtszeit
eine glänzende Chance gehabt, das Deutschtum im Osten zu fördern.
Durch den Notstand der Landwirtschaft waren damals die Gutspreise
rapide gesunken. Es wäre nicht schwer gewesen, eine gewaltige Landmasse
für die Zwecke späterer Besiedlung durch Deutsche aus polnischer Hand zu
gewinnen. Caprivi glaubte aber in der Ostmarkenpolitik wieder einmal den
Kurs wechseln zu müssen. Daß er den Polen in Schul- und Kirchenfragen
entgegenkam, war zu ertragen. Ich persönlich war immer der Ansicht,
daß es nicht notwendig und nicht einmal politisch nützlich wäre, auf diesem
Gebiete die Polen zu drangsalieren. Caprivi aber ging so weit, durch eine
Hilfeleistung für die polnische Landbank eine Rettungsaktion für eben die
polnischen Grundbesitzer zu unternehmen, aus deren Liegenschaften die
Ansiedlungskommission bestrebt sein mußte Land zu erwerben. Man hat
behauptet, daß Caprivi, der, von seinem rein militärischen Standpunkt aus
und weil überhaupt eine starre Natur, den Krieg gegen Rußland für un-
vermeidlich hielt, sich für diesen Fall die Möglichkeit habe schaffen wollen,
ein selbständiges polnisches Staatswesen wiederherzustellen. Ich glaube,
daß dies ein ungerechter Vorwurf ist. Caprivi hatte doch zu viel altpreußi-
sches Empfinden und zu viel Staatsgefühl, als daß er sich zu einer solchen
Verirrung hätte hinreißen lassen. Er betrachtete die Polen wohl mehr mit
den Augen eines friderizianischen Generals, der bereit sein konnte, ein
Freikorps aus Kroaten und Slowaken zu bilden, diesen aber deshalb noch
nicht gestattet hätte, den Bestand der preußischen Monarchie zu gefährden.
Um an unserer Östgrenze ein selbständiges polnisches Reich zu errichten,
bedurfte es eines Bethmann Hollweg, der ohne Verständnis für die Tradi-
tionen des großen Königs und des größten deutschen Staatsmanns, unter
dem Beifallsjubel von Hans Delbrück, Riezler (Rüdorffer) und ähnlichen
Toren, vielleicht auch von Österreich eingefangen und beeinflußt, diesen
ungeheuren Fehler beging und damit selbst die Axt an die Wurzel des
preußischen Staates legte.
Von Anfang an war mir zweifellos, daß unsere Politik im Osten vor
allem stetig sein mußte. Nichts hatte uns mehr geschadet als immer wieder-
kehrende Schwankungen und Rückfälle in alte Fehler. Andererseits konnte
ich mir auch nicht verhehlen, daß, wie mit melancholischem Gesicht in
einer Staatsministerialsitzung einmal Graf Posadowsky ausführte, der
lange Zeit in der Provinz Posen tätig gewesen war, die Ostmarkenfrage für
uns nicht nur eine Frage der Polen in Deutschland, sondern auch eine