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blick gewinnen zu können. Der Sitz dieser Be-
hörde sollte in Paris sein. Die zweite Behörde
sollte eine Körperschaft von Inspektoren sein,
welche als direkte Legaten des Ministeriums
funktionierten und, wenn nötig, die verschiedenen
Kolonien aufsuchen sollten, um an Ort und Stelle
in die vorliegenden Verhältnisse Einblick zu ge-
winnen. Die Art der Kolonialverwaltung würde
dann also die folgende sein: die Initiative ist an
Ort und Stelle zu ergreisen. Die Kontrolle wird
in Paris ausgeübt, wobei das Ministerium das
Recht hat, Inspektoren mit der Spezialaufgabe
der Untersuchung abzusenden.
Alle Details der Ausführung und alle lau-
fenden Geschäfte sollten den Lokalverwaltungen
übertragen werden. Diese sollten sich in Frank-
reich durch von ihnen bezahlte, besondere Be-
hörden vertreten lassen, denen die Gouverneure
die in dem Mutterlande auszuführenden Dienste
übertrügen. Das Ministerium selbst würde so,
da es von der erdrückenden Last der durch die
Verwaltung der Kolonien bedingten Kleinarbeit
befreit wäre, sich ganz der Aufgabe der Kontrolle
widmen können.
Das Haupthindernis, das sich einer solchen
Ordnung der Dinge entgegenstellt, ist die Tatsache,
daß das bisher von der kolonialen Militär-
organisation geübte System dem System der
kolonialen Zivilverwaltung ganz entgegengesetzt
ist. Das erstere ist absolut zentralisiert, das
letztere dezentralisiert, das erstere wird vom Staat
bezahlt, das letztere von den Kolonien.
Kompetente Autoritäten haben schon der
Meinung Ausdruck gegeben, daß das militärische
System dezentralisiert und unter das durch das
Gesetz vom 23. April 1900 eingeführte Regime
gestellt werden sollte. Dies scheint indes un-
durchführbar, solange nicht Algerien, welches jetzt
dem Ministerium des Innern untersteht, unter
das Ministerium der Kolonien gestellt wird.
M. Hubert regt an, daß ein erster Schritt
auf diesem Wege gemacht werden solle, und daß
auf jeden Fall die Ausgaben für Unterhalt und
Material der Truppe von den Kolonien bestritten
werden sollten, wofür diesen dann eine ent-
sprechend erhöhte Subvention zu gewähren sei.
Die oben genannten Spezialbehörden hätten dann
für die Bedürfnisse der verschiedenen Dienstzweige
der Kolonien, sowohl für die zivilen wie für die
militärischen, zu sorgen, und die Kolonien würden
sehr wahrscheinlich durch die Verwaltung ihrer
eigenen Angelegenheiten im Mutterlande Er-
sparnisse erzielen, welche ausreichend groß sind,
um die Ausgaben für die Organisation dieser
Behörden zu decken.
So würde sich also der Staat, ohne irgend
einem Budget eine neue Last aufzulegen, durch
eine reine Verbesserung des Systems von Ver-
pflichtungen frei machen, die er bisher nur in-
different erfüllte und die deshalb nur um so
teurer waren. Der Kolonialminister würde Muße
haben, die Aufstellung und die Ausführung der
Lokalbudgets sorgfältig zu überwachen; er könnte
dem Parlament einen jährlichen Bericht vor-
legen, welcher die Maßregeln anführt, die in
Übereinstimmung mit den Wünschen der Kammern
ergriffen worden sind. Dieser Bericht, welcher
dem Parlament gleichzeitig mit dem General-
budget vorzulegen wäre, würde dann als Exposs
zu dem Teile des Budgets dienen, welcher von
den Kolonial-Subventionen und -Kontributionen
handelt. Es ließe sich so ein klares Bild von
den Verhältnissen und Bedürfnissen der ver-
schiedenen Kolonien gewinnen; demgemäß könnte
auch besser abgeschätzt werden, in welcher Höhe
die Summen in jedem besonderen Fall votiert
werden müßten. So ließe sich der von M. Hubert
erhobene Einwand, daß die Höhe der Kon-
tribution und Subvention unter dem bisherigen
System zu einer Zeit festgesetzt wird, in der die
wahren Verhältnisse der Kolonie dem Parlament
unbekannt sind, aus der Welt schaffen.
In den letzten Jahren ist das britische System
der Kolonialverwaltung besonders studiert worden.
M. Lesage hat 1897, M. Picard im Jahre
1902 und in neuerer Zeit M. Saint--
Germain, der während der letzten sechs Jahre
im Auftrage der Kolonialbudget-Kommission des
Senats den Bericht erstattete, die ganze Frage
sehr sorgfältig geprüft. Sie haben durch eine
vergleichende Studie der zwei Systeme die Re-
sormen festzustellen gesucht, die mit Nutzen bei
der französischen Kolonialverwaltung einzuführen
wären. Das britische System der General-
Agenturen für die Kolonien mit Selbstverwaltung
ist als undurchführbar und den französischen Ideen
zu fremd verworfen worden. Dagegen scheinen
sie alle der Schaffung einer Organisation analog
derjenigen der englischen Kronagentur für die
Kolonien günstig gestimmt zu sein.
r— r
Seitdem dieser Bericht des englischen Ver-
treters in Paris erschienen ist, hat die Schaffung
der in demselben erwähnten neuen Kolonial=
behörde schon greifbare Form angenommen. Der
französischen Deputiertenkammer ist nämlich am
13. Februar 1908 ein Gesetzentwurf zugegangen
(Deputiertenkammer-Drucksache Nr. 1505), der
die Schaffung einer „Agence générale des Co-
lonies“ vorsieht. Die Begründung des Gesetz-
entwurfes bewegt sich in denselben Gedankenreihen
wie der von Lister zitierte Bericht des M. Hubert.
Die Zentralverwaltung soll von den Arbeiten rein