Object: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Neue Bedenken Humboldt's. 641 
Aus solchen kunstvollen Vordersätzen ergiebt sich die Nothwendigkeit 
offen für England und Oesterreich aufzutreten; aber Preußen muß for- 
dern, daß die beiden Mächte augenblicklich in einem definitiven Vertrage 
Preußens gerechte Forderungen anerkennen und ihm namentlich die Ein- 
verleibung von Sachsen verbürgen. Sollten sie jedoch wider Erwarten 
auf diese Bedingungen nicht eingehen, „so bewiesen sie dadurch schon, 
daß sie rein kein europäisches Interesse hätten, und daß sie Preußen die 
Kräfte nicht einräumen wollten, deren es zur Erhaltung seiner Unab- 
hängigkeit bedarf; und so würde Preußen vor sich und Europa gerecht- 
fertigt sein, sich von ihnen zu trennen und einen eigenen Weg mit Ruß- 
land einzuschlagen." 
Wahrlich, blinde Ergebenheit gegen Rußland ist das Letzte, was sich 
den Diplomaten der Staatskanzlei vorwerfen läßt; bis zur zwölften Stunde 
bauten sie fest auf Oesterreichs Freundschaft. Schon nach wenigen Tagen 
ward offenbar, daß weder Oesterreich noch England eine feste Verpflich- 
tung für Preußens Wiederherstellung übernehmen wollte. Hardenberg 
hat dann noch wochenlang in unfruchtbaren Vermittlungsversuchen sich 
erschöpft; Preußen trug von seinem „Abfall“ zunächst nur den Haß da- 
von, der jedem diplomatischen Frontwechsel zu folgen pflegt. Doch als 
nachher der Streit sich verbitterte, da führte die Natur der Dinge, halb 
wider den Willen der preußischen Staatsmänner, jene Parteigruppirung 
herbei, welche dem klaren Blicke des Königs von vornherein als unver- 
meidlich erschienen war. Auf der einen Seite standen Preußen und Ruß- 
land, auf der andern: Oesterreich, England, alle kleinen Neider des wer- 
denden deutschen Staats und, als der Leiter der großen Verschwörung, 
Frankreich. Nur seinem Könige verdankte der aus tausend Wunden blu- 
tende Staat, daß er aus einem solchen Kampfe nicht völlig gedemüthigt 
hervorging. — 
Am 8. November übergab Fürst Repnin die Verwaltung von Sachsen 
an die preußischen Bevollmächtigten General von Gaudy und Minister 
v. d. Reck. Der Leipziger Bürgermeister Siegmann und die Handlungs- 
deputirten sprachen sofort im Namen von Stadt und Kaufmannschaft dem 
Staatskanzler ihr volles Vertrauen aus, dankten ihm für die treffliche 
Wahl der obersten Beamten..) Es fehlte nicht an unerquicklichem Streite, 
da der moderne Staat mit seiner strengen Aufsicht plötzlich unter die 
Spinnweben und den verstaubten Urväterhausrath dieser verkommenen 
altständischen Verwaltung hineinfuhr. An die Spitze des Finanzwesens 
wurde Staatsrath Friese gestellt, einer der besten Köpfe des preußischen 
Beamtenthums, derselbe, der in Königsberg an den Reformen Stein's so 
wirksam theilgenommen hatte. Er wußte nicht grell genug zu schildern, 
  
*) Eingabe der Leipziger Handelsdeputirten an den Staatskanzler, 15. November, 
Siegmann an Hardenberg, 16. November 1814. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 41
	        
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