Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Volksstimmung während der Fürstenrevolution. 193 
der beiden großen Nationen Mitteleuropas, sollte noch Fleisch und Blut 
gewinnen. In diese Zeiten der Erfüllung trat Deutschland ein, als der 
theokratische Staatsbau seines Mittelalters zusammenstürzte und also das 
politische Testament des sechzehnten Jahrhunderts endlich vollstreckt wurde. 
Aber wie viele Kämpfe und Stürme noch, bevor alle die großen 
Wandlungen des neuen Zeitalters vollbracht waren! Vorderhand bot 
das deutsche Reich den trostlosen Anblick der Zerstörung; kein Seher 
ahnte, welches junge Leben dereinst aus diesen Trümmern erblühen sollte. 
Nur das Eine war unverkennbar, daß eine zweite Umwälzung nahe be— 
vorstand. Die Revolution hatte ihr Werk nur halb gethan, da Bona- 
parte von vornherein beabsichtigte die deutschen Dinge im Fluß zu halten. 
Seit dem glücklichen Beutezuge durchbrach die alte Ländergier des deutschen 
Fürstenstandes alle Schranken; sie ergriff die Glückskinder des Bona- 
partismus wie ein epidemischer Wahnsinn und bestimmte während des 
nächsten Jahrzehntes die gesammte Politik der neuen Mittelstaaten. Die 
Reichsritter, Grafen und Herren konnten in dieser unruhigen monarchischen 
Welt sich nicht mehr behaupten; durch den Untergang ihrer Standes- 
genossen am linken Rheinufer sowie durch die Aufhebung der Domcapitel 
hatten sie den Boden unter den Füßen verloren und waren selber nur 
darum vorläufig verschont geblieben, weil die französische Politik sich noch 
nicht in der Lage befand alle ihre Pläne durchzusetzen. Der Reichsdepu- 
tationshauptschluß war kaum unterzeichnet, da begannen bereits mehrere 
Fürsten die benachbarte Reichsritterschaft gewaltsam zu mediatisiren, wie 
der modische Ausdruck lautete. Der Kaiser nahm sich in Regensburg 
seiner verfolgten Getreuen an, aber Preußen ergriff wieder die Partei 
der Fürsten, und unterdessen ward ein Reichsritter nach dem andern von 
den gierigen Nachbarn gebändigt. 
Die Haltung des neuen Reichstags unterschied sich in nichts von 
dem alten; Jean Paul verglich ihn witzig mit einem großen Polypen, der 
seine formlose Gestalt nicht ändere und wenn er noch so viel herunter- 
geschlungen habe. Mit dem altgewohnten unfruchtbaren Gezänk kam auch 
die hergebrachte reichspatriotische Phrase in die neue Zeit mit hinüber. 
Der Gesandte des Erzkanzlers Dalberg bewillkommnete die Vertreter der 
neuen Kurfürsten mit dem pomphaften Gruße: „das alte ehrwürdige 
Reichsgebäude, das seinem gänzlichen Untergange so nahe schien, wird 
heute durch vier neue Hauptpfeiler unterstützt.“ Aber Niemand theilte 
die Zuversicht des ewig begeisterten flachen Leichtsinns. Dumpf, leer und 
träge schleppten sich die Verhandlungen dahin; keiner der Gesandten wagte 
auch nur die Frage aufzuwerfen, ob das in seinen Grundlagen veränderte 
Reich noch die alte Verfassung behalten könne. Jedermann fühlte, daß 
in Wahrheit schon Alles vorüber war, und sah mit verschränkten Armen 
die Stunde nahen, die den Regensburger Jammer für immer beendete. 
Im Volke blieb Alles still. Keine Hand erhob sich zum Widerstande 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 13
	        
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