Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

360 I. 3. Preußens Erhebung. 
schen Rechtes über den Haufen, verschmolzen das bürgerlich-protestantische 
Altwürttemberg mit den geistlichen, reichsstädtischen und adlichen Territo- 
rien Neuwürttembergs zu einer Masse. Der Wille des Königs und seiner 
zwölf Landvögte gebot unumschränkt in den nördlichen wie in den südlichen 
Provinzen des Reichs — so lautete der bescheidene Ausdruck der Amts- 
sprache; sämmtliche Gemeindebeamten ernannte der König. Alles zitterte, 
wenn der ruchlose dicke Herr in seinem Muschelwagen heranfuhr; die Werk- 
zeuge seiner unnatürlichen Lüste sowie einige habgierige mecklenburgische 
Junker bildeten seine tägliche Umgebung. Durch Zwangsaushebung ver- 
schaffte er sich alle Arbeitskräfte, die er brauchte, sogar seine Lakaien; in 
einem einzigen Oberamte wurden mehr als 21,000 Mann zur königlichen 
Jagdfrohne aufgeboten. Ein strenges Verbot der Auswanderung raubte 
dem verzweifelten Volke die letzte Hoffnung. Mit besonderer Schadenfreude 
gab der König den erlauchten Herren vom Reichsadel seine selbstherrliche 
Macht zu fühlen; er bedurfte kaum der Mahnungen des Protectors, der 
seine Vasallen beständig vor den Umtrieben der Mediatisirten warnte. 
Die alten Familiengesetze der Fürsten, Grafen und Ritter wurden mit 
einem Schlage beseitigt; die neue Hofrangordnung gab den adlichen Grund- 
herren ihren Platz hinter den Pagen und Stalljunkern, und wer nicht 
bei Hofe erschien, verlor ein Viertel seines Einkommens. 
Gewiß entsprang auch dieser Sultanismus — wie Stein das Treiben 
der rheinbündischen Despoten zu nennen pflegte — nicht allein der per- 
sönlichen Laune. Der König verfolgte und erreichte das Ziel der würt- 
tembergischen Staatseinheit, und es brauchte einer eisernen Faust, um 
diese classischen Lande der Kirchthurmspolitik in etwas größere Verhältnisse 
einzuführen. Ueberall wo die rheinbündische Bureaukratie die Erbschaft 
der kleinen Reichsfürsten antrat, stieß sie auf völlig verrottete, lächerliche 
Zustände. Als die Staaten der beiden Häuser Leiningen-Westerburg dem 
Großherzogthum Berg einverleibt wurden, da fand sich in der gemein- 
schaftlichen Kreiskasse beider Lande als einziger Bestand — ein Vorschuß 
von 45 Gulden, den der Rendant aus eigener Tasche vorgestreckt. Der 
Untergang solcher Staatsgebilde konnte kein Verlust für die Nation sein. 
In Mürttemberg aber wurde die unvermeidliche Revolution mit so grau- 
samer Roheit, mit so cynischem Hohne durchgeführt, daß die Massen nur 
die Härte, nicht die Nothwendigkeit des Umsturzes fühlen konnten. Während 
die geknebelte Presse schwieg, sammelte sich im Volke ein stiller dumpfer 
Groll gegen den König an. Die Einwohner der Reichsstädte, der hohen- 
lohischen, der Stifts= und Ordenslande wollten sich an das neue Wesen 
schlechterdings nicht gewöhnen. Auch die Altwürttemberger vergaßen über 
dem schweren Druck der Gegenwart Alles, was einst die Vettern und 
Vettersvettern der „Ehrbarkeit“ in ihren Landtagsausschüssen gesündigt 
hatten und sehnten sich zurück nach dem „alten guten Rechte"“ der ständi- 
schen Verfassung. Der Gesichtskreis dieser kleinstaatlichen Welt blieb frei-
	        
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