Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Preußens diplomatische Lage. 407 
stürze. Friedrich Wilhelm versagte die Erlaubniß. Das Volk gehorchte 
schweigend, obgleich die hastigen Neuerungen des Staatskanzlers viel Un— 
willen, gerechten und ungerechten, gegen die Regierung hervorgerufen hatten, 
und so geschah was der Barmherzigkeit und dem gesetzlichen Sinne jenes 
tapferen Geschlechts gleichmäßig zur Ehre gereicht: diese Schaaren wehr— 
loser, tödlich gehaßter Feinde zogen sicher ihres Wegs durch das preußische 
Land. Da und dort lärmte der Pöbel in wüster Schadenfreude, die 
Schuljugend ließ sich's nicht nehmen die Flüchtlinge durch den Schreckens- 
ruf „Kosak“ aus der Rast aufzuscheuchen. Es geschah wohl, daß rhein- 
bündischen Offizieren das rothe Band von der Brust gerissen wurde; diese 
Landesverräther haßte das Volk noch grimmiger als die Franzosen selber. 
Die Masse der Unglücklichen blieb unbelästigt, fand in preußischen Häusern 
Obdach und Pflege; sie waren doch noch unsere Bundesgenossen. Der Anblick 
des grauenhaften Elends erschütterte selbst rohe Gemüther; den kleinen 
Leuten schien es sündlich sich hinterrücks an denen zu vergreifen, die Gott 
selbst geschlagen. Unter den Tausenden, die also entkamen, war die große 
Mehrzahl der Generale und Obersten des Imperators; die deutsche Gut- 
herzigkeit rettete ihm seine Heerführer. Was aber bestimmte die Haltung 
des Königs? Wahrlich nicht allein seine peinliche Gewissenhaftigkeit, die 
selbst den heiligen Kampf der Nothwehr nicht ohne unanfechtbaren Rechts- 
grund beginnen mochte, sondern die richtige Erkenntniß der militärischen 
Lage. Ein vorzeitiger Losbruch ungeordneter Massen war das sichere 
Verderben des Staates. Es galt, unter den Augen des Feindes das Heer, 
das ihn schlagen sollte, erst zu schaffen, den Bestand der Streitkräfte zu 
versechsfachen und unterdessen die Allianz mit den beiden anderen Ost- 
mächten abzuschließen. Alles dies ward nur möglich durch die Mittel der 
Arglist, welche der erfinderische Kopf des Staatskanzlers angab. Er spielte 
den treuen Verbündeten Napoleon's, versicherte beharrlich, daß seine 
Rüstungen für die Fortführung des russischen Krieges bestimmt seien. 
Aber selbst wenn die geheimen Verhandlungen günstigen Fortgang 
nahmen und eine Coalition der sämmtlichen alten Mächte zu Stande kam, 
so blieb Preußens politische Lage noch immer sehr nachtheilig, fast ver- 
zweifelt. Gewiß bedurfte Rußland der preußischen Hilfe. Denn hielt der 
König bei dem französischen Bunde aus, so wurde die schwache schlecht- 
gerüstete Armee des Czaren von dem zurückkehrenden Napoleon unzweifel- 
haft mit zermalmender Uebermacht vernichtet bevor der Nachschub aus 
dem fernen Osten herankommen konnte; der Eroberer, gewitzigt durch das 
Unglück des vergangenen Winters, hätte sicherlich nicht zum zweiten male 
den abenteuerlichen Zug in das Innere des weiten Reiches gewagt, son- 
dern sich begnügt, die Ostseeprovinzen und die polnisch-litthauischen Lande 
von dem Czarenreiche abzureißen. Trotzdem standen die Aussichten für 
die alten Mächte sehr ungleich. Rußland und England hatten während 
der jüngsten Jahrzehnte ihre Macht erheblich vergrößert: jenes in Polen
	        
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