Preußens diplomatische Lage. 407
stürze. Friedrich Wilhelm versagte die Erlaubniß. Das Volk gehorchte
schweigend, obgleich die hastigen Neuerungen des Staatskanzlers viel Un—
willen, gerechten und ungerechten, gegen die Regierung hervorgerufen hatten,
und so geschah was der Barmherzigkeit und dem gesetzlichen Sinne jenes
tapferen Geschlechts gleichmäßig zur Ehre gereicht: diese Schaaren wehr—
loser, tödlich gehaßter Feinde zogen sicher ihres Wegs durch das preußische
Land. Da und dort lärmte der Pöbel in wüster Schadenfreude, die
Schuljugend ließ sich's nicht nehmen die Flüchtlinge durch den Schreckens-
ruf „Kosak“ aus der Rast aufzuscheuchen. Es geschah wohl, daß rhein-
bündischen Offizieren das rothe Band von der Brust gerissen wurde; diese
Landesverräther haßte das Volk noch grimmiger als die Franzosen selber.
Die Masse der Unglücklichen blieb unbelästigt, fand in preußischen Häusern
Obdach und Pflege; sie waren doch noch unsere Bundesgenossen. Der Anblick
des grauenhaften Elends erschütterte selbst rohe Gemüther; den kleinen
Leuten schien es sündlich sich hinterrücks an denen zu vergreifen, die Gott
selbst geschlagen. Unter den Tausenden, die also entkamen, war die große
Mehrzahl der Generale und Obersten des Imperators; die deutsche Gut-
herzigkeit rettete ihm seine Heerführer. Was aber bestimmte die Haltung
des Königs? Wahrlich nicht allein seine peinliche Gewissenhaftigkeit, die
selbst den heiligen Kampf der Nothwehr nicht ohne unanfechtbaren Rechts-
grund beginnen mochte, sondern die richtige Erkenntniß der militärischen
Lage. Ein vorzeitiger Losbruch ungeordneter Massen war das sichere
Verderben des Staates. Es galt, unter den Augen des Feindes das Heer,
das ihn schlagen sollte, erst zu schaffen, den Bestand der Streitkräfte zu
versechsfachen und unterdessen die Allianz mit den beiden anderen Ost-
mächten abzuschließen. Alles dies ward nur möglich durch die Mittel der
Arglist, welche der erfinderische Kopf des Staatskanzlers angab. Er spielte
den treuen Verbündeten Napoleon's, versicherte beharrlich, daß seine
Rüstungen für die Fortführung des russischen Krieges bestimmt seien.
Aber selbst wenn die geheimen Verhandlungen günstigen Fortgang
nahmen und eine Coalition der sämmtlichen alten Mächte zu Stande kam,
so blieb Preußens politische Lage noch immer sehr nachtheilig, fast ver-
zweifelt. Gewiß bedurfte Rußland der preußischen Hilfe. Denn hielt der
König bei dem französischen Bunde aus, so wurde die schwache schlecht-
gerüstete Armee des Czaren von dem zurückkehrenden Napoleon unzweifel-
haft mit zermalmender Uebermacht vernichtet bevor der Nachschub aus
dem fernen Osten herankommen konnte; der Eroberer, gewitzigt durch das
Unglück des vergangenen Winters, hätte sicherlich nicht zum zweiten male
den abenteuerlichen Zug in das Innere des weiten Reiches gewagt, son-
dern sich begnügt, die Ostseeprovinzen und die polnisch-litthauischen Lande
von dem Czarenreiche abzureißen. Trotzdem standen die Aussichten für
die alten Mächte sehr ungleich. Rußland und England hatten während
der jüngsten Jahrzehnte ihre Macht erheblich vergrößert: jenes in Polen