Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

302 II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe. 
germanischen Genius waren ihr gegeben: die oft ins Grenzenlose schwei— 
fende Vielseitigkeit und jene schöpferische, ursprüngliche Macht des Denkens, 
die sich wohl in Unklarheit und Grübelei verlieren, aber niemals platt 
und leer werden kann. Dem Lande selbst kam von dieser Fülle geistiger 
Kräfte nur wenig zu gute. Da ein gelehrtes Beamtentum fast gänz- 
lich fehlte, so blieben die Prälaten und die Helfer nahezu die einzigen 
amtlichen Vertreter der höheren Bildung. Ihnen genügte es, daß der 
schwäbische Kandidat, neben dem kursächsischen, noch überall in der Welt 
als der beste Hauslehrer gesucht wurde. Die Zeit war dahin, da die 
Prinzen aller lutherischen Fürstenhäuser nach Tübingen in das Collegium 
illustre zogen; jetzt klagte die Universität bitterlich, daß sie in einem Winkel 
Deutschlands verkümmern müsse. Die freien Gedanken des neuen Jahr- 
hunderts fanden bei den geistlichen Leitern des württembergischen Schul- 
wesens so wenig Verständnis, daß sich endlich Herzog Karl Eugen ent- 
schloß, der starren Theologie des Tübinger Stifts ein Gegengewicht zu 
schaffen und in seiner Karlsschule der verweltlichten Wissenschaft eine 
Freistätte eröffnete, die in der kurzen Zeit ihres Bestandes den Ruhm der 
alten Hochschule ganz verdunkelte. Alle die großen Schwaben, welche an 
der Arbeit der neuen Literatur teilnahmen, von Schiller bis auf Schel- 
ling und Hegel, mußten sich ihren Wirkungskreis außerhalb des Landes 
suchen, manche erst nach schwerem Kampfe mit den kleinlichen Vorur- 
teilen der Heimat. Jener tragische Gegensatz geistigen Reichtums und 
politischer Armseligkeit, die Krankheit unseres achtzehnten Jahrhunderts, 
zeigte sich nirgends häßlicher als hier. 
Die Abgelegenheit des Landes, das seine alten Welthandelstraßen 
längst verloren hatte; die Mannigfaltigkeit der Bodengestaltung mit 
ihrem bunten Wechsel von rauhen Hochebenen, waldreichen Alptälern, 
und lachenden Rebengeländen; das Elend der staatlichen Vielherrschaft 
und die angeborene unzähmbare Eigenart des Volkes, dem nichts un- 
leidlicher schien als die politische Mannszucht — dies alles im Verein rief 
in Schwaben eine kleinlebige Zersplitterung und Vereinzelung hervor, wie 
sie selbst in Deutschland ohnegleichen dastand. Die kleinen Städte des 
Herzogtums lebten unter ihren freund-vetterlichen Stadtschultheißen 
ganz ebenso still und abgeschlossen für sich hin wie die benachbarten 
Reichsstädte; das unwandelbare gute alte Recht ließ den Gedanken der 
Staatseinheit, das Bewußtsein gemeinsamer politischer Aufgaben nicht 
aufkommen. Ganz Schwaben — Wurttemberg so gut wie die wunderbaren 
Staatsgebilde der Reichsstädte, der gefürsteten Propsteien und der reichs- 
ritterlichen Kondominate — galt in Deutschland als das Paradies klein- 
bürgerlicher Wunderlichkeit: nahe dem Hohenstaufen lag Krähwinkel, und 
in Biberach sammelte Wieland den Stoff für seine Abderiten. Was 
Wunder, daß inmitten dieser engen Welt die reiche vielgeschäftige Phan- 
tasie der Schwaben oft auf seltsame Schrullen geriet; nirgends in
	        
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