Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

so radicalen Absichten war die Mehrheit allerdings weit entfernt; sie gab 
vielmehr zu, daß die kurze Amtsdauer der städtischen Aemter viele tüchtige 
Kräfte von der Communalverwaltung fern halte, die städtischen Beamten 
allzusehr der Volksgunst unterwerfe, und beantragte daher lebenslängliche 
Anstellung der besoldeten Stadträthe. 
Unter allen Sätzen der Städteordnung ward keiner so leidenschaftlich 
angefeindet wie die Eintheilung der Städte in Ortsbezirke. Die modische 
Vorliebe für deutschrechtliche Stände und Corporationen wollte in dieser 
Vorschrift nichts als mechanische Willkür sehen. Ancillon hatte schon 1819 
in seiner Verfassungsdenkschrift bitter getadelt, daß die Städteordnung 
„alle Bürger ohne Unterschied in eine Kategorie werfe“. Aber auch 
Humboldt, J. G. Hoffmann und sogar die Liberalen Dahlmann und 
F. v. Raumer wünschten, die alten Corporationen der Gewerbsgenossen 
in freieren Formen wieder zu beleben und diesen das städtische Wahlrecht 
anzuvertrauen. Die Lehre Niebuhr's: „ohne Einungen und Corporationen 
kann keine städtische Wahl und keine Bürgerversammlung gedeihen“ ent- 
sprach den Durchschnittsansichten dieser romantischen Epoche. Stein selber 
neigte sich zu Zeiten der Meinung Niebuhr's zu, obwohl ihm sein staats- 
männischer Instinkt sagte, wie schwierig die Ausführung sei. Die Com- 
mission dagegen hielt die nachbarschaftlichen Stadtbezirke des Stein'schen 
Gesetzes aufrecht; sie wußte, daß die Gemeindeverwaltung die Bürger als 
Bürger vereinigen, nicht als Gewerbsgenossen trennen soll. In der That 
hatte sich die Städteordnung gerade in den großen Städten, wo die Nach- 
barschaft so wenig bedeutet, am besten bewährt; und auch späterhin ist 
jeder Versuch, die Communal-Verfassung auf gewerbliche Corporationen 
zu stützen, an der bunten Mannigfaltigkeit des modernen städtischen 
Gewerbslebens regelmäßig zu Schanden geworden. — 
Aus allen diesen Vorschlägen sprach ein lebendiges Verständniß für 
deutsche Selbstverwaltung. In auffälligem Gegensatze dazu stand der 
bureaukratische Geist des Kreisordnungs-Entwurfes, der lebhaft an das 
unselige Gensdarmerie-Edikt erinnerte. Als nach dem Jahre 1807 die 
Reform der Kreisordnung zuerst erwogen wurde, da begegneten sich Stein, 
Vincke, Schrötter und Friese selbst in der Einsicht, daß die Kreis- 
eingesessenen bei der Verwaltung des Kreises selber Hand anlegen müßten. 
Sie Alle wollten den Kreis in kleinere Bezirke gliedern, da ein Gebiet 
von durchschnittlich 35,000 Einwohnern für die Wirksamkeit von Selbst- 
verwaltungsbeamten offenbar zu groß war, und in diesen Bezirken einen 
Theil der Verwaltungsgeschäfte an Kreiseingesessene übertragen. Dieser 
fruchtbare Gedanke, der allein weiter führen konnte, wurde jetzt leider auf- 
gegeben. Wie wunderbar nachhaltig ist doch die Wirksamkeit des Genius. 
Dem Städtewesen hatte Stein's gewaltiger Wille den Grundsatz „Selbst- 
verwaltung ist Selbsthandeln“ so unvertilgbar eingeprägt, daß keiner 
seiner Nachfolger daran noch viel ändern konnte. Die Kreisverwaltung
	        
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