Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

702 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit. 
Welt sprach wieder von der Glorie der Bastillestürmer, und in dies 
Selbstlob der Franzosen stimmte eine Schaar von Deutschen, die mit jedem 
Jahre wuchs, begeistert ein. Unwiderstehlich drangen seit der Mitte der 
zwanziger Jahre Frankreichs politische Ideen über den Rhein hinüber. 
Niemals in aller Geschichte hat sich der Sieger so freiwillig unter 
das Joch des Besiegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Ludwig's XIV. 
unsere Bildung beherrschte, da konnte das entvölkerte und verstümmelte 
Deutschland von dem gallischen Sieger fast nur empfangen. Jetzt be— 
haupteten die Franzosen nur noch in den exakten Wissenschaften den 
Vorrang, auf allen anderen Gebieten der Literatur und Kunst waren die 
Deutschen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deutsche seinen 
Nachbar um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden, 
Preußen zum mindesten besaß in seiner nationalen Krone, seiner Wehr— 
pflicht, seinem Schulwesen, seiner Selbstverwaltung, seinem redlichen Be— 
amtenthum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politischen 
Lebens, welche dem französischen Staate fehlten. Aber der laute, von den 
Pariser Kammerrednern und Zeitungsschreibern mit so glänzendem Talent 
geführte Parteikampf erschien der radicalen Jugend Deutschlands nicht 
als ein Beweis hoffnungslosen inneren Unfriedens, sondern als ein 
Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Kreisen der Halb— 
gebildeten herrschte noch von den ersten Zeiten der Revolution her, wie 
Niebuhr mit Trauer bemerkte, die staatsfeindliche Ansicht: „daß die ganze 
Aeußerung der Freiheit im Conflict besteht: im Conflict der Deputirten 
und der Regierung, im Conflict des Einzelnen gegen den Souverän.“ 
In Wahrheit hatten die Deutschen nur wenig zu lernen von der unnatür— 
lichen Verquickung englischer Parlamentsbräuche mit napoleonischem Ver— 
waltungsdespotismus, welche die Franzosen als constitutionelle Monarchie 
rühmten. Was jetzt als neueste politische Weisheit aus Frankreich herüber- 
kam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein frischer Aufguß 
jener durch Niebuhr und Savigny längst wissenschaftlich überwundenen 
formalistischen Staatslehre, welche das Wesen der Freiheit allein in der 
Verfassung suchte. Die Bewunderung des französischen Wesens wirkte 
jetzt nur verwirrend und bethörend; sie entfremdete unsere Jugend dem 
Vaterlande, sie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, sie 
verdarb ihr das Verständniß für die vorhandenen Anfänge einer gesunden 
nationalen Politik, sie vergiftete die ohnehin mächtige Mißstimmung noch 
künstlich durch die revolutionären Schlagworte und den maßlosen Partei- 
haß der Nachbarn. Die jungen Deutschen, die in dem Bannkreise dieser 
französischen Anschauungen aufwuchsen, wußten kaum, daß Gneisenau noch 
in voller Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten sie nie ein 
Wort gehört; den General Foy, der in der Pariser Kammer die 
Tricolore, das Banner der Marseillaise, für Frankreich zurückforderte, 
kannten und bewunderten sie alle.
	        
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