6 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
der wenigen Franzosen, welche den Schicksalen des Nachbarlandes mit Ver—
ständnis folgten, Saint-René-Taillandier, meinte besorgt: solche Anarchie
der Geister erinnere an die Zustände Frankreichs vor der Revolution.
Aber in den deutschen Wirren offenbarte sich nicht wie einst in Frank—
reich die Fäulnis einer sittlich zersetzten Gesellschaft, sondern der unklare
Jünglingsmut eines edlen aufstrebenden Volkes, das seine Kraft zu
fühlen begann. Wie leicht eine große Idee alle diese hadernden Köpfe
unter einen Hut zwingen, alle diese durcheinander flutenden Gedanken,
von denen keiner die Nation ganz beherrschte, völlig überschatten konnte,
das lehrte jener wunderbare Einmut kriegerischer Begeisterung, der die
Deutschen ergriff, als sie ihre Westmark gefährdet sahen. Wenn der Nach—
folger Friedrich Wilhelms III. durch freien königlichen Entschluß, wie bis—
her noch alle die großen Wendungen unserer Geschichte sich entschieden
hatten, durch eine rechtzeitige weise Gewährung seine heimischen Verfassungs—
händel schlichtete, wenn er also zugleich das Ansehen seiner Krone stärkte
und die Kluft überbrückte, welche sein Preußen von den kleinen deutschen
Staaten abschied, wenn er das edle Vermächtnis der Befreiungskriege,
das erstarkte religiöse Leben treu behütete, ohne die freie Forschung von
sich zu stoßen, dann durfte er wagen, die friderizianischen Gedanken in
einem großen und freien Sinne wieder aufzunehmen, das Werk des Zoll—
vereins zu vollenden und mit dem Degen in der Hand für den Staat,
der das Arbeitsleben der Nation bereits beherrschte, auch die Leitung der
deutschen Politik zu fordern. —
Selten hat sich so fühlbar die alte Wahrheit bestätigt, daß Männer
den Lauf der Zeiten beherrschen. Friedrich Wilhelm der Vierte blieb acht
Jahre hindurch der Mann des Schicksals für Deutschland; die Kräfte,
die er weckte, und weit mehr noch die Gegenkräfte, die er wider sich auf—
rief, trieben unser Volk der Revolution entgegen. Aber selten auch ward
so anschaulich, daß die Zeit sich ihre Männer bildet. Der rätselhafte
Charakter des neuen Königs war selbst nur eine letzte feine Blüte der
langen, kaum erst überwundenen Epoche ästhetischer Überschwenglichkeit;
erst den tatkräftigeren Söhnen eines anderen abgehärteten Geschlechts,
das die Greuel der Revolution durch die Gassen hatte rasen sehen, sollte
gelingen, was diesen weichen Händen mißraten mußte. Eine so eigen-
artige Ansicht von der Vollgewalt des Königtums, wie dieser Fürst sie
in begeistertem Herzen hegte, hatte mit der frivolen Selbstvergötterung der
Bourbonen, mit der gedankenlosen Ruheseligkeit der Wiener Hofburg gar
nichts, mit der pfäffischen Königskunst der Stuarts auch nur wenig ge-
mein; sie konnte, gleich dem künstlerischen Absolutismus König Ludwigs
von Bayern, nur auf deutschem Boden erwachsen, nur auf dem Boden
jener romantischen Weltanschauung, welche in der schrankenlosen Entfal-
tung aller Gaben, in der Selbstgewißheit und dem Selbstgenusse des
stolzen Ichs ihr Ideal fand. In der gedrückten und beengten Zeit rief