Full text: Das Interregnum.

wille vornehmlich oder ausschliesslich durch einen einzigen obersten 
Individualwillen dargestellt wird, von dem Wechsel dieses Individual- 
willens, aber auch von seinem zeitweiligen Verschwinden unberührt, 
sobald nur die körperschaftliche Organisation die Möglichkeit ge- 
währt, provisorisch die entstandene Lücke durch andere Einzelwillen 
auszufüllen. Die Gemeinde ändert sich nicht durch den Verlust des 
Bürgermeisters, die katholische Kirche nicht durch die Vakanz des 
päpstlichen Stuhles. Das gilt nun in Sonderheit für das höchste 
aller Gemeinwesen, den Staat, die zur höchsten herrschenden Per- 
sönlichkeit erwachsene Volkseinheit. Diese wird erstens nicht be- 
rührt durch einen Wechsel in der Form ihrer Herrschaft, in der 
Zuständigkeit der Staatsgewalt; die Verwandlung des monarchisch 
organisirten Staates in eine Republik schafft keinen neuen Staat.') 
Sie wird ferner namentlich nicht alterirt durch den Wechsel der In- 
dividuen, aus denen sie besteht. Der englische Staat unserer Tage 
ist derselbe, wie zu den Zeiten des ersten Georg, wenngleich König 
und Unterthanen heute allesamt andere Individuen sind als damals. ?) 
Sie wird drittens nicht berührt von dem Wechsel der Individuen, 
die wir die Träger der Staatsgewalt nennen, nicht von dem Wechsel 
des Fürsten. Denn auch der Monarch ist nicht die Gesamtheit selbst, 
sondern einer ihrer Theile, wenn auch ein vor allen anderen quali- 
fizirter Theil; er steht nicht über oder ausser dem Staate, sondern 
in ihm. Tritt der Thronfolger an die Stelle des verstorbenen Mon- 
archen, so wechselt der Herrscher, nicht der Staat: niemand wird 
behaupten, der Staat Preussen sei seit König Wilhelms Tode ein 
anderer als zuvor. Die Staatseinheit wird endlich nicht alterirt 
durch den zeitweiligen Verlust des Trägers der Staatsgewalt, durch 
das Interregnum; denn die Wurzel dieser Einheit, der einheitliche 
Gemeinzweck und die Bildung des auf seine Erreichung gerichteten 
Gemeinwillens, ist davon unabhängig. „Der Staat als Rechtswesen 
  
1) Dieser bekanntlich bei den Alten, insbesondere durch Aristoteles sehr 
bestrittene Satz ist heute die herrschende Meinung. S. Herrter, Europäisches 
Völkerrecht S. 61f.; ZoEpFL I. S. 566; JELLINER, Staatenverbindungen $. 275. 
2) Jene öde Staatslehre freilich, die im Staate nichts als den Zustand der 
Beherrschung einer Reihe mit einander lebenden Individuen durch einen Indivi- 
dualwillen erkennen will, leugnet den im Texte ausgesprochenen Satz. Sie sieht 
eben nur die Theile ohne das Band und darum nur die Veränderung der Atome, 
nicht die Stetigkeit der ruhenden Ganzheit. Aber ihre Auffassung erklärt sich 
nicht aus der wahren Wesenheit des Gegenstandes, den sie betrachtet, sondern 
daraus, dass sie ihn von einer falschen Seite beleuchtet. Vgl. die oben S. 71, 
Note 3 angeführten Schriftsteller.
	        
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