Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 81 
genötigt, sich mit einer Öffentlichen Kundmachung zu begnügen und 
eine Frist aufzustellen, nach Ablauf deren die Fiktion eintrete, daß 
Jedermann sich die Kenntnis des Gesetzes verschafft habe!. Dem 
entsprechend wird im Art. 1, Abs. 2 des Code civil die Möglichkeit, 
daß die Verkündigung des Gesetzes Öffentlich bekannt sei, zur aus- 
drücklichen Bedingung der Vollstreckbarkeit eines Gesetzes gemacht. 
»Elles seront ex&cut&es dans chaque partie de l’Empire, du moment 
ol la promulgation en pourra Elre connue.« Nach Maßgabe der Ent- 
fernung der Departementshauptstadt von der Reichshauptstadt wird 
darauf im Abs. 3 desselben Artikels die Frist bestimmt, mit deren Ab- 
lauf die Vermutung eintritt, daß die Promulgation in dem Departement 
gemeinkundig sei. »La promulgation faite par ’Empereur sera reputee 
connue< .... Eine Konsequenz dieses Grundsatzes ist die, daß, so lange 
ein französisches Departement von einer feindlichen Macht okkupiert 
ist oder die Verbindung der Departementshauptstadt mit Paris unter- 
brochen ist, ein in dieser Zeit verkündetes Gesetz in dem Departement 
verbindliche Kraft nicht erlangen kann. Die französische Praxis hat 
diesen Grundsatz stets als einen zweifellosen in Anwendung gebracht’). 
Die vom Art. 1 des Code civil hingestellte Vermutung fällt daher weg, 
wenn die Unmöglichkeit, daß ein Gesetz Gemeinkundigkeit habe 
erlangen können, dargetan wird. 
Der Art. 2 der Reichsverfassung dagegen knüpft nicht die Ver- 
bindlichkeit der Gesetze an die Voraussetzung ihrer Gemeinkundigkeit 
und die Vermutung ihrer Gemeinkundigkeit an den Ablauf einer ge- 
wissen Frist, sondern die verbindliche Kraft tritt unmittelbar durch 
den Ablauf dieser Frist ein, ohne alle Rücksicht darauf, ob diese Frist 
die Gemeinkundigkeit ermöglichte oder nicht’). Daher ist es auch 
zulässig, den Anfang der Geltung auf den Tag der Verkündigung selbst 
zu bestimmen, also auf einen Zeitpunkt, an welchem das Stück des 
Reichsgesetzblattes noch gar nicht im ganzen Umfang des Bundes- 
gebietes verbreitet sin kann). Aus demselben Grunde ist es ohne 
1) Diese Deduktion entwickelt Portalis im Discours preliminaire du projet 
de Code civil nro 25 (Locre, La Legislation de la France I, S. 268). 
2) Vgl. v. Richthofen in Hirths Annalen 1874, S. 535fg.; Leonil, S. 10 
und jetzt die vortreffliche Darstellung von Lukas Gesetzespublikation S. 91 ff., 128. 
3) Uebereinstimmend Binding, Handbuch des Strafrechts I, S. 227. Lukas 
S. 172. 
4) Die Beispiele dafür sind sehr zahlreich. Einige der wichtigsten sind folgende: 
Gesetz vom 29. Mai 1868, $ 5, Bundesgesetzbl. S. 238 (Aufhebung der Schuldhaft); 
Gesetz vom 27. März 1879, $ 6, Bundesgesetzbl. S. 15 (Verbot der Ausgabe von Bank- 
noten); Gesetz vom 21. Juli 1870, Bundesgesetzbl. S. 497, 498; Sozialdemokratengesetz 
vom 21. Oktober 1878, $S 30 (Reichsgesetzbl. S. 358); Gesetz betreffend Aenderungen 
des Zolltarifs vom 30. Mai 1879, $ 4 (Reichsgesetzbl. S. 150), vgl. auch $2 dieses Ge- 
setzes; Gesetz vom 15. Juli 1879, $ 1, Ziff. 1 (Reichsgesetzbl. S. 207); BReichsgesetz 
vom 9. Juni 1884 (sogenanntes Dynamitgesetz), 8 14 (Reichsgesetzbl. S. 64). Ferner 
sämtliche Verordnungen, welche Ausfuhr- und Einfuhrverbote enthalten oder dieselben 
wieder aufheben. — Gesetze, die im fernen Auslande beobachtet werden müssen,
	        
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