Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Verweltlichung der Wissenschaft. 91 
denden Mächten dankt unser Volk seine Stellung unter den Nationen, 
den besten Inhalt seiner neuesten Geschichte; und merkwürdig, wie sie 
beide in ihrer Entwicklung an hundert Jahre lang mit einander Schritt 
gehalten haben: ein innerer Zusammenhang, der ebendarum nicht zu- 
fällig sein kann, weil eine unmittelbare Wechselwirkung selten stattfand. 
In derselben Zeit, da der große Kurfürst den neuen weltlichen Staat der 
Deutschen schuf, geschah auch in der Literatur die entscheidende That, die 
Befreiung der Wissenschaft von dem Joche der Theologie. Als darauf 
der preußische Staat unter Friedrich Wilhelm I. in stiller Arbeit seine 
Kräfte sammelte, trat auch das geistige Leben der Nation in einen Zu- 
stand der Selbstbesinnung: die dürre Prosa der Wolffischen Philosophie 
lehrte die Mittelklassen wieder logisch zu denken und zu schreiben. Um 
das Jahr 1750 endlich, gleichzeitig mit dem Heldenthume König Friedrich's, 
begann das Erwachen der schöpferischen Kraft in der Literatur, und die 
ersten dauernden Werke der neuen Dichtung erschienen. 
Dem Mittelalter erschien die sittliche Welt als eine geschlossene sicht- 
bare Einheit; Staat und Kirche, Kunst und Wissenschaft empfingen die 
sittlichen Gesetze ihres Lebens aus der Hand des Papstes. Es war die 
Absicht der Reformation, diese Herrschaft der geistlichen Gewalt zu zer- 
stören, dem Staate wie der Wissenschaft das Recht auf ein selbständiges 
sittliches Dasein zurückzugewinnen. Doch sie hielt ein bei einem halben 
Erfolge. Wie die Theokratie des heiligen Reiches aufrecht blieb und alle 
weltlichen Staaten dem Glaubenseifer der Kirchen ihren streitbaren Arm 
liehen, so fiel auch die Wissenschaft wieder zurück in die theologische Ver- 
bildung; die alte Königin der Wissenschaften behauptete ihren Herrscher- 
thron, alle Lehrer der Universitäten wurden auf ein kirchliches Bekenntniß 
verpflichtet. Da hob, zunächst in Deutschlands höher gesitteten Nachbar- 
ländern, die große Arbeit des mathematischen Jahrhunderts an: eine 
strenge und klare, weltlich freie Forschung erklärte die Geheimnisse der 
Natur, und gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts, als Newton 
die Gesetze der Mechanik des Himmels fand, war nach und nach eine 
grundtiefe Veränderung in der Weltanschauung der Menschheit vorge- 
gangen. Das kirchliche Bekenntniß hatte bisher als der einzige feste 
Maßstab für das unsichere Denken gegolten, jetzt erschien das Wissen 
sicherer als der Glaube. Es wird nun immer eine stolze Erinnerung 
unseres Volkes bleiben, wie kühn und frei das getretene Geschlecht des 
dreißigjährigen Krieges an dieser mächtigen Bewegung sich betheiligte; 
zuerst empfangend und lernend — denn dahin war es mit uns gekommen, 
daß Leibniz sagen mußte, der deutschen Nation sei als einzige Begabung 
der Fleiß geblieben — nachher selbständig und selbstthätig. Nach langem 
erbittertem Kampfe vertrieb Pufendorf die Theologen aus der Staats- 
wissenschaft und begründete für Deutschland eine weltliche Lehre vom 
Staate. Andere Wissenschaften folgten und stellten sich auf ihre eignen
	        
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