Verweltlichung der Wissenschaft. 91
denden Mächten dankt unser Volk seine Stellung unter den Nationen,
den besten Inhalt seiner neuesten Geschichte; und merkwürdig, wie sie
beide in ihrer Entwicklung an hundert Jahre lang mit einander Schritt
gehalten haben: ein innerer Zusammenhang, der ebendarum nicht zu-
fällig sein kann, weil eine unmittelbare Wechselwirkung selten stattfand.
In derselben Zeit, da der große Kurfürst den neuen weltlichen Staat der
Deutschen schuf, geschah auch in der Literatur die entscheidende That, die
Befreiung der Wissenschaft von dem Joche der Theologie. Als darauf
der preußische Staat unter Friedrich Wilhelm I. in stiller Arbeit seine
Kräfte sammelte, trat auch das geistige Leben der Nation in einen Zu-
stand der Selbstbesinnung: die dürre Prosa der Wolffischen Philosophie
lehrte die Mittelklassen wieder logisch zu denken und zu schreiben. Um
das Jahr 1750 endlich, gleichzeitig mit dem Heldenthume König Friedrich's,
begann das Erwachen der schöpferischen Kraft in der Literatur, und die
ersten dauernden Werke der neuen Dichtung erschienen.
Dem Mittelalter erschien die sittliche Welt als eine geschlossene sicht-
bare Einheit; Staat und Kirche, Kunst und Wissenschaft empfingen die
sittlichen Gesetze ihres Lebens aus der Hand des Papstes. Es war die
Absicht der Reformation, diese Herrschaft der geistlichen Gewalt zu zer-
stören, dem Staate wie der Wissenschaft das Recht auf ein selbständiges
sittliches Dasein zurückzugewinnen. Doch sie hielt ein bei einem halben
Erfolge. Wie die Theokratie des heiligen Reiches aufrecht blieb und alle
weltlichen Staaten dem Glaubenseifer der Kirchen ihren streitbaren Arm
liehen, so fiel auch die Wissenschaft wieder zurück in die theologische Ver-
bildung; die alte Königin der Wissenschaften behauptete ihren Herrscher-
thron, alle Lehrer der Universitäten wurden auf ein kirchliches Bekenntniß
verpflichtet. Da hob, zunächst in Deutschlands höher gesitteten Nachbar-
ländern, die große Arbeit des mathematischen Jahrhunderts an: eine
strenge und klare, weltlich freie Forschung erklärte die Geheimnisse der
Natur, und gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts, als Newton
die Gesetze der Mechanik des Himmels fand, war nach und nach eine
grundtiefe Veränderung in der Weltanschauung der Menschheit vorge-
gangen. Das kirchliche Bekenntniß hatte bisher als der einzige feste
Maßstab für das unsichere Denken gegolten, jetzt erschien das Wissen
sicherer als der Glaube. Es wird nun immer eine stolze Erinnerung
unseres Volkes bleiben, wie kühn und frei das getretene Geschlecht des
dreißigjährigen Krieges an dieser mächtigen Bewegung sich betheiligte;
zuerst empfangend und lernend — denn dahin war es mit uns gekommen,
daß Leibniz sagen mußte, der deutschen Nation sei als einzige Begabung
der Fleiß geblieben — nachher selbständig und selbstthätig. Nach langem
erbittertem Kampfe vertrieb Pufendorf die Theologen aus der Staats-
wissenschaft und begründete für Deutschland eine weltliche Lehre vom
Staate. Andere Wissenschaften folgten und stellten sich auf ihre eignen