Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Boyen über die deutsche Kriegsverfassung. 595 
nicht bloß das Erstarken des alten Nebenbuhlers, sondern sie erkannte 
auch in dem Wehrgesetze einen Triumph der militärischen Jacobiner des 
schlesischen Heeres und witterte unheimliche demokratische Bestrebungen. 
Boyen aber sah in seinem Gesetze das köstliche Vermächtniß des Be— 
freiungskrieges; er sagte sich mit frohem Stolze, daß die Eigenart des 
preußischen Staates in diesen Institutionen sich verkörperte, daß Preußen 
in der Ausbildung seines Heerwesens allen anderen Staaten überlegen 
war und keine andere Großmacht jener Zeit, am allerwenigsten Oester— 
reich mit seinen murrenden Italienern, wagen durfte ihrem ganzen Volke 
Waffen in die Hände zu geben. In wie großem und freiem Sinne er 
sein Werk auffaßte, wie treu er die Ueberlieferungen der Stein-Scharn— 
horstischen Tage in seinem Feuergeiste bewahrte, das hat der anspruchslose 
Mann erst nach Jahren öffentlich ausgesprochen, als er zum fünfundzwan— 
zigjührigen Jubelfeste der Landwehr jenen Ausspruch Gneisenau's über den 
dreifachen Primat in poetischer Form wiederholte und die Verse schrieb: 
„Der Preußen Losung ist die Drei — Recht, Licht und Schwert!“ 
Der Schweigsame liebte Deutschland mit der ganzen tiefen, verhal- 
tenen Leidenschaftlichkeit des echten Ostpreußen; um seines Vaterlandes 
willen war er einst unter die Verschwörer des Tugendbundes und nach 
Rußland auf die Wanderschaft gegangen. Aber dem unbestimmten Ideal- 
bilde einer deutschen Bundeskriegsverfassung wollte er das eigenartige 
Wesen seines preußischen Volksheeres nicht opfern. In einer ausführlichen 
Denkschrift?) schilderte er dem Staatskanzler, wie in Deutschland vier 
grundverschiedene Systeme der Kriegsverfassung beständen: das österrei- 
chische, das rheinbündisch-französische, das englisch-hannoversche und das 
preußische; nimmermehr dürfe Preußen den deutschen Charakter seines 
Heeres einem Compromisse mit diesen ausländischen Systemen zum Opfer 
bringen. „Man wird doch nicht, weil der leibeigene Böhme, Raize, Buko- 
winer, der Landesmeinung wegen, nach harten Gesetzen behandelt werden 
soll, den Pommern und Brandenburger, bloß um der lieben Ueberein- 
stimmung willen, strengeren Vorschriften unterwerfen wollen? Preußen 
kann seinen Standpunkt in Europa nur behaupten, wenn es die größere 
Uebereinstimmung seiner Einwohner, die bessere Bildung seines Adels 
und Bürgerstandes auf das Kräftigste zu einem eigenen Kriegssysteme 
benutzt. Wer diese nationalen Vorzüge einer augenblicklichen philanthropi- 
schen Idee aufopfern wollte, wäre nicht allein ein Feind Preußens, son- 
dern er vernichtete auch die Willenskraft, durch die sich Preußen seit dem 
großen Kurfürsten in Europa hielt.“ Darum mag der künftige Deutsche 
Bund wohl den größeren Fürsten, den Kreisobersten, die militärische Füh- 
rung ihrer Kreise anvertrauen und von allen Bundesgliedern sehr große 
  
*) Boyen's Denkschrift über die deutsche Kriegsverfassung (undatirt, während des 
Congresses dem Staatskanzler übergeben). 
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