Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

240 V. 3. Enttäuschung und Verwirrung. 
dem reifen Manne nur geahnt, erst sobald er sie an sich selbst erlebt 
hat, wirklich begriffen werden, desgleichen, daß die erhabenen Sprüche 
biblischer Weisheit, einmal aufgenommen in das empfängliche Gedächtnis 
des Kindes, in der Stille mit dem Menschen fortleben, um dann plötzlich, 
in den Versuchungen und Unglücksfällen des Lebens, eine tröstende und 
erhebende Kraft zu zeigen, welche weder dem Einmaleins noch dem ABC 
noch den Kinderfabeln vom Ochs und Esel innewohnt. 
Diesterweg dachte zu klug, zu ruhig, um in dem Religionsunterrichte 
seines Seminars die hergebrachten Formen geradezu zu verlassen; doch eine 
lebendige Freude an der christlichen Offenbarung konnte er seinen Zöglingen 
nicht erwecken. Noch schädlicher wirkte die unmäßig hohe Vorstellung, die 
er in seinem stürmischen pädagogischen Feuereifer sich von der Würde des 
Lehrers gebildet hatte. Schlicht, wie er selbst war, wollte er auch seine 
Zöglinge aus dem Volke hervorgehen und im Volke wirken sehen; gleich— 
wohl hielt er, nach einem mißverstandenen Ausspruche Schleiermachers, den 
Lehrer für den wichtigsten Mann im Staate und verlangte, die der hand— 
werksmäßigen Schulmeisterei entwachsene, zur Wissenschaft erhobene Pä— 
dagogik müsse sich zur Kunst ausbilden. Was Wunder, daß die Schüler 
den Meister noch überboten und überall unter den Seminaristen die 
Schlagworte umliefen: Bildung macht frei, wer die Schule hat, hat die 
Zukunft; kühnere Köpfe weissagten bereits, die Schule würde dereinst die 
Kirche ganz verdrängen. Die Lehrer verwechselten den unschätzbaren Wert 
des heranwachsenden Geschlechts mit dem bescheidenen Werte der Dienste, 
welche sie dieser Jugend leisteten; weil der Besitz einiger Elementarkennt- 
nisse in der modernen Welt jedem so unerläßlich war wie einst in ein- 
facheren Zeiten die Waffentüchtigkeit, so hielten sie das Unentbehrliche für 
das Würdigste und Höchste. In den neuen Lehrerzeitungen und Lehrer- 
vereinen zeigte sich ungewöhnlich stark der dem ganzen Zeitalter eigentüm- 
liche Geist der sozialen Unruhe, der jeden drängte, sich über seinen Stand 
zu erheben; hier wurde mit dem Nürnberger Trichter oft geradezu ein 
Kultus getrieben, hier sprach man nur noch von den Herren Lehrern, und 
der schöne alte Name Schulmeister, der doch mehr und Besseres sagt, galt 
schon für ehrenrührig. 
Dies starke Selbstgefühl der Schulmeister stand in schreiendem 
Widerspruche zu ihrer gedrückten wirtschaftlichen Lage, die sich unter 
der sparsamen alten Regierung nur wenig gebessert hatte; Gehalte von 
50—100 Talern jährlich waren nicht selten, selbst die alte bettelhafte 
Unsitte des Reihetischs bestand noch in einzelnen abgelegenen Gegenden. 
Seit das Allgemeine Landrecht die Schulen für Veranstaltungen des 
Staates erklärt hatte, war der Schulmeister nicht mehr schlechtweg der 
Untergebene des Pfarrers, und schon geschah es zuweilen, daß er 
dem Geistlichen als Vorkämpfer der weltlichen Aufklärung trotzig ent- 
gegentrat. Von der Höhe seiner zur Wissenschaft erhobenen Pädagogik
	        
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