414 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
dann regt sich überall die Scheelsucht gemeiner Seelen. In Völkern von
altbefestigtem Stolze wird solcher Kleinsinn gebändigt durch den nationalen
Instinkt, der sich den einen doch nicht rauben lassen will. In Deutschland
bestand diese Schranke des Neides nicht. Mit philosophischem Selbstge—
fühle blickten die Kritiker der Deutschen Jahrbücher auf Rankes „Halb—
gedanken“ hernieder und belehrten ihn herablassend über historische Tat—
sachen, deren Dasein sie selber erst aus seinem Werke erfahren hatten.
Auch reichgebildete Männer konnten den liberalen Parteihaß nicht über—
winden; in den Kreisen Humboldts und Varnhagens stellte man F. v.
Raumer, ja sogar den treufleißigen, harmlosen Sammler Preuß weit
über den Verfasser der Reformationsgeschichte.
Die abgünstigen Urteile äußerten sich noch dreister, als darauf die
Neun Bücher preußischer Geschichte erschienen. Nachdem Stenzel, der gründ—
liche Kenner deutsch-slawischen Grenzerlebens, zuerst versucht hatte, die Ge-
schichte des preußischen Staates von den ältesten Zeiten an gemeinverständ-
lich, im Geiste des gemäßigten Liberalismus darzustellen, wagte sich Ranke
an einen ihrer bedeutsamsten Abschnitte, an die Zeiten, da das absolute
Königtum den Staat erst im Innern neu gestaltete, dann durch die beiden
ersten schlesischen Kriege zur Großmacht emporhob, und wieder erschloß er
dem historischen Urteil einen neuen Gesichtskreis. Zur Verwunderung
seines königlichen Gönners bewies er zuerst, daß Friedrich Wilhelm I. der
schöpferische Organisator unserer Verwaltung war, und sagte schon voraus,
welch ein Schatz politischer Belehrung noch zu heben sei, wenn dereinst
die Geschichte der preußischen Verwaltung im Zusammenhange, auf Grund
umfassender Aktenforschung geschildert würde. Dies Urteil berührte sich
zwar mit der Ansicht Schöns, der dem Wiederhersteller Litauens immer
dankbare Verehrung bewahrte; die liberale Durchschnittsmeinung jedoch
ließ sich das altüberlieferte Zerrbild des rohen, bildungslosen „Natur-
menschen“ Friedrich Wilhelm so schnell nicht nehmen. Ohnehin zeigte
die nach konstitutionellen Formen drängende Zeit wenig Sinn für die
großen Tage königlicher Machtvollkommenheit. Das Buch erwärmte nie-
mand; die elegante, kühl diplomatische Erzählung, die über Friedrichs I.
auswärtige Politik und andere schwache Stellen unserer Geschichte leicht
hinwegglitt, stand in auffälligem Gegensatze zu der grellen Lebenswahrheit
der Menzelschen Zeichnungen. So ward denn dies Werk anfangs sehr
undankbar ausgenommen; an ihm bewährte sich noch mehr als an den
meisten anderen Schriften Rankes, daß seine neuen Ideen immer erst
einer Reihe von Jahren bedurften, bis sie von der Nation ganz ver-
standen wurden. i"«
Rankes friedfertigen Geist wähnte man mit spöttischer Geringschätzung
abfertigen zu können. Den überschwenglichen Haß der liberalen öffentlichen
Meinung aber bekam Stahl zu empfinden, der tapfere Staatsrechtslehrer
der strengkonservativen Richtung, der einzige große politische Kopf unter allen