50 Oie evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch.
wie einst in dem Bewußtsein der restlos durchgeführten Lehreinheit, sondern in dem
durch das Evangelium, durch Christus und seinen Geist tatsächlich erzeugten Lebens-
gemeinschaft. ODie Kirche hat sich immer mehr aus einer primären Lehrgemein-
schaft zu einer primären Lebensgemeinschaft fortgebildet. Das zeigt ein Blick auf
die Arbeit, die sie im 19. JLahrhundert getan hat. Das Leben der evangelischen Kirche ist
schon durch den Pietismus im 17.—18., vor allem aber durch die Aufgaben des 19. Jahr-
hunderts auf eine höhere Stufe gehoben. Könnten die Alten wiederkehren, so würden
sie staunen über die Lebensbereicherung und —ertiefung, die sich vollzogen hat. Der
erste Schritt dazu war schon die Union. Wie Schleiermacher in der Theologie den
Lebenscharakter der Religion gegenüber ihrem Lehrcharakter geltend gemacht hat, so
hat sich auch praktisch im Leben der Kirche der Schwerpunkt immer mehr aus der
Theorie in die Praxis verschoben, und diese Verschiebung bedeutet Fortschritt. Die
evangelische Kirche hat, aufgewühlt von Lehrstreitigkeiten, immer mehr ihr eigentliches
Wesen in der Aktivität, der Energie gefunden, die das Evangelium in der Erfüllung
praktischer Aufgaben entfaltet. Die tatsächlich kirchenbildende Kraft des Protestantis-
mus in unserer Zeit beruht nicht in erster Linie in einem zu einer bestimmten Zeit aus-
gebildeten klassischen Lehrtpypus, sondern in einem ursprünglichen und charaktervollen
evangelischen Lebenstoypus, der sich in der Geschichte machtvoll durchsetzt.
Damit soll ganz gewiß nicht einem ideen- und bekennt-
nislosen undogmatischen „praktischen Christentum“ das
Wort geredet werden. Oie entscheidende Frage ist nur
die, was in den Bekenntnissen und am Bekenntnis der Reformation das tiefste tragende
Fundament unserer Kirche bildet. Dieses verlassen, würde allerdings heißen, die Kirche
preisgeben. Dieses tiefste, bleibende Fundament liegt aber nicht in der Lehrtheorie, in der
es sich der damaligen Zeit allerdings darstellte, sondern in der ursprünglichen, allein durch
Christus gewonnenen, im Neuen Testament gefundenen Heilserfahrung. Sie bildet den
Kern des Bekenntnisses und damit die bleibende Lebensgrundlage der evangelischen Kirche.
Sie allein ist auch, wie gerade die „positive“ Theologie des 19. Zahrhunderts bewiesen hat,
die Voraussetzung, die Quelle aller religiös-christlichen Erkenntnis. Ja, Theologie und Praxis
der Kirche haben beide dieses eine mit der größten Klarheit ergeben, daß der letzte tragende
Grund evangelischer Kirchengemeinschaft in einem aller Theorie vorausliegenden Lebens-
prinzip besteht. Dieses ist es, welches alle wahren evangelischen Christen mit demselben
Geiste beseelt und ihnen die gemeinsame Lebensrichtung gibt. Dadurch erst, daß sie alle
in diesem gemeinsamen Grunderleben stehen, und nicht schon durch die Anerkennung
einer Lehre schließen sie sich zu einer Bekenntnisgemeinschaft im Geist und in der
Wahrheit zusammen. Wo das zur Erkenntnis kommt, greift eine ganz andere Inner-
lichkeit und Tiefe Platz, als die altprotestantische Kirchenauffassung jemals zum Aus-
druck gebracht hat.
Bekenntnisgemeinschaft
in tieferem Sinne.
Hier wird es deutlich, in welchem Sinne un-
B t i kter.
leibender Bekenntnischarakter sere evangelische Kirche immer Bekennt-
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